Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Eva Willebrand: Literarische Texte in Religionsbüchern

 

„Misstraut gelegentlich euren Schulbüchern! Sie sind nicht auf dem Berg Sinai entstanden, meistens nicht einmal auf verständige Art und Weise, sondern aus alten Schulbüchern, die aus alten Schulbüchern entstanden sind, die aus alten Schulbüchern entstanden sind. Man nennt das Tradition. Aber es ist etwas ganz anderes.“ Pointiert fordert Erich Kästner in seiner „Ansprache zum Schulbeginn“ einen kritischen und mündigen Umgang mit Schulbüchern. Eva Willebrand, Theologin und Germanistin, hat in einer umfangreichen und quellenkundigen Studie einen ebensolchen Umgang mit Religionsbüchern im Sinne Kästners gewagt. Dabei gilt das Forschungsinteresse ihrer von Georg Langenhorst betreuten Dissertation der Verwendung von literarischen Texten in Religionsbüchern. Die Autorin zeichnet in historischer Perspektive entscheidende Wegmarker und Grundtendenzen eines sich stetig wandelnden religiösen Lernens anhand literarischer Texte nach und verweist schließlich fundiert auf Möglichkeiten und Gewinne eines literarisch sensiblen Religionsunterrichts.

Für die Beantwortung der Fragen, welche Texte von welchen Autoren Verwendung in Religionsbüchern finden, mit welcher didaktischen Intention diese ausgewählt worden sind und auf welche Weise methodisch mit diesen verfahren wird, wertet Willebrand einen opulenten Korpus aus: Den Untersuchungsgegenstand bilden die zwischen 1945 und 2013 erschienenen Unterrichtswerke für den katholischen Religionsunterricht an Gymnasien in den Klassen 9 bis 13.

Um diese Fülle an Religionsbüchern kriteriengeleitet einordnen zu können, arbeitet die Autorin drei Phasen des Umgangs mit literarischen Texten in religionsdidaktischer Absicht heraus. Zunächst bestimmt sie eine erste Phase, die durch die Materialkerygmatik geprägte Zeit zwischen 1945 und dem Ende der 1960er-Jahre, in der sich die Verwendung von literarischen Texten daran entschied, ob sie die christliche Wahrheit widerspiegeln oder nicht. Als eine zweite Phase ergibt sich für die Autorin die Zeit des hermeneutischen Religionsunterrichts, in welcher der Wert von literarischen Texten als Spiegel menschlicher Erfahrungen für religiöses Lernen entdeckt und gewürdigt wird. In den späten siebziger Jahren beginnt schließlich die dritte und bis heute andauernde Phase eines dem Korrelationsprinzip verpflichteten Religionsunterrichts, in dem literarische Texte einen festen Raum für die Wechselbeziehung zwischen überliefertem Glauben und der heutigen Erfahrung von Schülern gewinnen. Anfragen lässt sich sicher, ob, wie Willebrand es formuliert, das Korrelationsprinzip noch immer ein unkonkretes, offenes Leitprinzip ist und wirklich nie zu einer Konzeption ausgearbeitet worden ist. Die Autorin differenziert die drei Phasen sodann noch einmal nach thematischen Lernfeldern, wie etwa Gottesfrage, Kirche, Tod und Auferstehung, oder in den späteren Phasen anthropologische Grunderfahrungen, wie Mensch und Welt, Liebe, Partnerschaft und Sexualität.

In einem gerechten und wertschätzenden Modus stellt die Autorin Konstanten und Weiterentwicklungen des Umgangs von Religionsbüchern mit literarischen Texten in den vergangenen 70 Jahren dar. Dabei verzichtet sie nicht darauf, entscheidende Fehlentwicklungen offen zu benennen, etwa als in der von der Materialkerygmatik geprägten Zeit der Umgang mit Literatur in Religionsbüchern eher einer stumpfen Funktionalisierung von Literatur gleichkam und vor vermeintlich falschen Propheten wie etwa Lessing, Goethe oder Rilke zu warnen war, da diese ihren Blick auf Gott und die Welt fernab der katholischen oder christlich verbürgten Wahrheit zu formulieren wussten.

Dass Willebrand in ihrer Arbeit bewusst auf einen eindeutigen Literaturbegriff verzichtet und mit „Literarizität“ die denkbar weiteste Kategorisierung literarischer Texte wählt, kann aus literaturwissenschaftlicher Perspektive als starkes Wagnis dieser Arbeit begriffen werden. Zu den eindrucksvollsten Passagen des sehr sorgfältig gestalteten Bandes gehören vor allem die Reflexionen der Verwendung von literarisch-theologischen Grenzgängern in Religionsbüchern – wie etwa Franz Kafka oder Bertolt Brecht –, die das Suchen des Menschen, seine Sehnsucht nach Gott und ebenso die leise Ahnung der Moderne und Postmoderne, dass es ihn doch nicht geben könnte, in Worte fassen. Innovativ schließt die Autorin den Band mit einem Plädoyer für einen literarisch sensiblen Religionsunterricht ab, der sich den Konzepten eines kompetenzorientierten, konstruktivistischen, ästhetischen oder performativen Religionsunterrichts verpflichtet wissen könnte.

„Literarische Texte in Religionsbüchern“ ist ein anspruchsvoll zu lesender und zugleich höchst gewinnbringender Band für alle Verantwortlichen in religiösen Lern- und Bildungskontexten, die Literatur als Modus der Gottes- und Weltspiegelung fruchtbar machen wollen und sich nicht vor Erich Kästners Forderung nach einem bisweilen misstrauenden Umgang mit Schulbüchern scheuen.

Zwischen Verkündigung, Erfahrungsspiegelung und Erschließung religiöser Tiefen
Bad Heilbronn: Julius Klinkhardt Verlag. 2016
436 Seiten
49,00 €
ISBN 978-3-7815-2096-7

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