Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Gemeinde Oberammergau (Hg.): Passionsspiele. Oberammergau 2022

Pünktlich zur Premiere der 42. Passionsspiele am 14. Mai 2022 hat die Gemeinde Oberammergau dieses gut gestaltete und exzellent bebilderte Buch veröffentlicht. Im Mittelpunkt stehen die eindrücklichen Aufnahmen von Birgit Gudjonsdottir, die mitten hinein in das dramatische Geschehen zoomt, das der Theaterbesucher ja nur aus der Distanz verfolgen kann. Die Kamerafrau und Fotografin dokumentiert jede der zwölf „Vorstellungen“ und die zwölf „Lebenden Bilder“, die typologische Szenen aus dem Alten Testament nachstellen; ihren Farbaufnahmen sind die entsprechenden biblischen Texte vorangestellt. Dabei wird der aufmerksame Betrachter rasch bemerken, dass nicht nur die Rolle des Jesus zweifach besetzt ist. Ergänzt wird der opulente Bildteil (10-141) durch eine informative Chronik der Oberammergauer Passionsspiele von Teresa Grenzmann (156-167) sowie ein Gespräch zwischen dem Spielleiter und Regisseur Christian Stückl, dem Bühnen- und Kostümbildner Stefan Hageneier sowie dem musikalischen Leiter und Dirigenten Markus Zwink; Letzteres liefert wichtige Hinweise zu einem besseren Verständnis der aktuellen Version des Passionsspiels (142-153). Abschließend werden die Hauptdarsteller und die Musiker aufgeführt (170-175).

Die Passionsspiele sind ein soziales Event ohne gleichen. Mitwirken darf nur, wer entweder in Oberammergau geboren wurde oder seit 20 Jahren vor Ort lebt. Von den 5.400 Einwohnern der oberbayerischen Gemeinde beteiligen sich 2022 etwa 1.400 Erwachsene und 400 Kinder, so dass nicht nur Alt und Jung, sondern auch Menschen unterschiedlicher religiöser Überzeugung zusammenfinden. Es gibt einige Darsteller, die bereits das 10. Mal mitwirken. Die Pandemie erzwang eine Verschiebung von 2020 auf 2022, mit der Folge, dass sich zu den Proben alle Beteiligten vor dem Betreten des Theaters einem Corona-Schnelltest unterziehen mussten. Ab Aschermittwoch, dem 17. Februar 2021, galt der „Bart- und Haarerlass“ mit Aufforderung, sich „die Haare, die Männer auch die Bärte wachsen zu lassen“; kein Wunder, dass im Fortgang des Jahres bei manchen die Haare auffällig ergrauten. 140 Sprechrollen waren zu verteilen, die 20 Hauptrollen doppelt; wer bei der Premiere spielt, entscheidet das Los. Die Passionsmusik, die etwa eineinhalb Stunden der über fünfstündigen Aufführung einnimmt, wird von etwa 250 Sängern und Instrumentalisten bestritten, was ohne musikalische Früherziehung nicht gelingen kann. Für die Darsteller wurden rund 1.500 Kostüme von Hand im Passionstheater angefertigt. Bis zum 2. Oktober sind insgesamt 103 Spieltermine vorgesehen, wobei das Passionstheater rund 4.400 überdachte Sitzplätze fasst. Bei der Premiere waren zahlreiche Prominente aus Politik und Kirche anwesend, erwartet wird Besuch aus Großbritannien, Skandinavien und insbesondere den USA.

Wie kam es zu der weltweiten Sonderstellung der Oberammergauer Passionsspiele? Den Ausgangspunkt bildet ein 1633 gegebenes, immer wieder erneuertes Gelübde: Als während des Dreißigjährigen Krieges die Pest ins Dorf kam, schworen die Bewohner, die Passion Jesu Christi alle 10 Jahre aufzuführen, um Gott gnädig zu stimmen und sie so vor der tödlichen Krankheit zu bewahren. Das erstmals 1634 auf dem Friedhof der Kirche aufgeführte Passionsspiel war nur eines von vielen im österreichisch-bayerischen Raum und zudem eine Kompilation aus älteren Spielen. Der fulminante Aufschwung der Oberammergauer Spiele hängt mit zwei Änderungen – des Spielortes und des gespielten Stückes – zusammen. 1820 wurde es letztmals auf dem Friedhof gezeigt und ein Passionstheater errichtet, das wegen des touristisch angekurbelten enormen Publikumsansturms neu errichtet und mehrfach umgebaut werden musste. Für das hiesige Spieljahr wurde die Theaterbühne zu einer Tempelanlage umgewandelt.

Die zweite grundlegende Änderung betrifft den auf die Bühne gebrachten Text. Eine „vollkommene Neuerfindung des Passionsspiels“ (157) legt der Ettaler Mönch Ferdinand Rosner 1750 vor: In den Mittelpunkt stellt er Jesus im Kampf gegen die Mächte der Hölle; zudem greift der Benediktiner die barocke Mode der „Lebenden Bilder“ auf. Einen Einschnitt erzwingt die Säkularisation: Othmar Weis, ebenfalls Ettaler Benediktiner, revidiert für 1811 das Passionsspiel, streicht die Allegorien, behält die „Lebenden Bilder“ bei und setzt stärker auf die Bibel; als wegweisende Neuerung kommt die Passionsmusik des Oberammergauer Lehrers Rochus Dedler hinzu. Das Passionsspiel von Weis wiederum unterzieht der Oberammergauer Pfarrer Josef Alois Daisenberger 1860 unter Einbeziehung des Johannes-Evangeliums einer gründlichen Überarbeitung. Und diese Version gerät spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg wegen ihrer stereotypen und negativen Darstellung der Juden mehr und mehr in die Kritik.

Nach jahrelangen heftigen Auseinandersetzungen wird im Sommer 1986 der damals 28-jährige Bildschnitzer und Theatermacher Christian Stückl von der Gemeinde zum Spielleiter gewählt; er unterzieht den Text, Markus Zwink die Musik einer vorsichtigen Revision. Zur Vorbereitung der Spiele findet seitdem eine Fahrt der Darsteller nach Israel statt. Erstmals spielt eine verheiratete Frau die Maria und ein evangelischer Schauspieler eine der Hauptrollen. Die 40. Passionsspiele im Jahr 2000 bringen die größte Reform seit 1860: einen neuen Text von Stückl (theologische Beratung von Ludwig Möldl), neue „Lebende Bilder“ mit Musik von Zwink und eine neue Bühne von Stefan Hagemeier. 2010 findet eine neuerliche Überarbeitung statt, so wird etwa das „Sch’ma Israel“ bei der Tempelreinigung eingefügt. 2022 singt der Chor bei der Kreuzigung auf Hebräisch „Eli, eli lama asabtahni“ (aus Psalm 22); Abdullah Karaca fungiert als 2. Spielleiter und ein Judas wird von einem Muslim gespielt.

Dem Theatermenschen Stückl geht es um mehr als gutes Theater, möchte er doch das Leben, die Passion und die Auferstehung des Jesus von Nazareth den Besuchern unterschiedlichen Glaubens nahebringen. Das Passionsspiel 2022 zeigt den gläubigen Juden Jesus als einen Kämpfer für Gerechtigkeit, Frieden und Feindesliebe, der an seinem Messias-Anspruch festhält, was auf massiven Widerspruch stößt. Im Hohen Rat findet eine scharfe Auseinandersetzung über Jesus zwischen den Protagonisten Kaiphas und Annas auf der einen und Joseph von Arimathäa und Nikodemus auf der anderen Seite statt. Pilatus agiert als skrupelloser Machtpolitiker und repräsentiert die brutalen römischen Besatzer. (Bei manchen Äußerungen von Kaiphas und Pilatus glaubt man Putin zu hören.) Besonders gilt es Judas zu erwähnen, der Jesus zu politischem Handeln drängen will, sich von Kaiphas instrumentalisieren lässt und sich nach der Verurteilung seines geliebten Vorbilds verzweifelt erhängt: Judas wird als verratener Verräter dargestellt. Geschickt wird die Auferstehung Jesu indirekt durch die Begegnung der Frauen am Grab mit dem Engel inszeniert.

Mit ihrem Buch offeriert die Gemeinde Oberammergau allen Besuchern eine ausgezeichnete Erinnerungshilfe und allen, die keine der 450.000 Eintrittskarten erwerben konnten, einen ersten Eindruck von den beeindruckenden 42. Passionsspielen.

176 Seiten m. farb. Abb.
Berlin: Verlag Theater der Zeit. 2022
35,00 €
ISBN 978-9-95749-275-3

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