Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Gerd Häfner: Anstößige Texte im Neuen Testament

Historisch-kritische Bibelexegese und gläubige Bibellektüre – geht das zusammen? Sowohl von Gläubigen als auch von Bibelkritikern wird dies immer wieder bestritten. Gerd Häfner beweist mit seinem Buch aber das Gegenteil. Eine historisch-kritische Betrachtung der Bibel verhindert keineswegs die gläubige Lektüre, sondern erweitert vielmehr die Perspektive und schärft den Blick. Häfners Aufhänger sind gerade die Texte, die vor allem von den „neuen Atheisten“ gerne als Argument gegen die Bibel und den biblischen Gott vorgebracht werden – die fragwürdigen, anstößigen und manchmal regelrecht skandalösen Texte des Neuen Testamentes.

Der Autor unterscheidet dabei vier typische Verständnisschwierigkeiten, die im Zusammenhang mit biblischen Texten auftreten können: 1. Verständnisschwierigkeiten auf Seiten der Leser, etwa durch unverständliche Wörter, schwierige grammatische Formen oder unerwartete Sachzusammenhänge. 2. Akzeptanzschwierigkeiten auf Seiten der Leser, wenn sich nur schwer erschließt, was „Gott uns damit mitteilen wollte“, etwa bei Gewaltszenen oder polemischen Aussagen. 3. Widersprüche und Spannungen biblischer Texte untereinander, wovon sowohl Spannungen zwischen den vier Evangelien als auch Zitate aus dem Alten Testament betroffen sein können. 4. Die problematische Auslegungsgeschichte eines Textes, wo der Text selbst keine Schwierigkeiten bereitet, wohl aber die Art und Weise, wie er verstanden wurde. Dies ist besonders häufig bei antijüdischen Aussagen der Fall.

Für alle vier Typen anstößiger Texte behandelt der Autor nun Beispiele und versucht, Widersprüche und Vorbehalte aufzulösen, ohne dabei aber je einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Die Frage nach dem willkürlichen Gott in Mk 4,10-12 etwa, der nach scheinbar unverständlichen Kriterien den einen das Verständnis vom Reich Gottes schenkt und den anderen nicht, wird mit Verweis auf die synoptische Matthäus-Parallele und einem Blick auf die möglichen Bedeutungen des griechischen Wortes für Gleichnis („parabolé“) beantwortet. Die fragwürdigen Personen, die in den Gleichnissen Jesu für ihr Verhalten ausdrücklich gelobt werden – etwa die fünf „egoistischen“ Jungfrauen, die ihr Öl nicht teilen wollen, oder der betrügerische Verwalter in Lk 16,1-8 – erscheinen sowohl durch die Analyse ihrer jeweiligen Handlungsmotive als auch durch einen Blick auf den umgebenden Kontext, in den die Gleichnisse eingebettet sind, in einem anderen Licht.

Ein ausgezeichnetes Gespür für die Vielschichtigkeit biblischer Texte beweist Häfner, wenn er die Redaktionsgeschichte einiger Texte beleuchtet und herausstellt, wie biblische Autoren auf der einen Seite Anstößiges geglättet haben, auf der anderen Seite aber auch bewusst den Anstoß inszeniert haben. Dies war der Fall bei dem berühmten Nadelöhr, durch das eher ein Kamel geht als ein Reicher in das Himmelreich, und das die Frage aufgeworfen hat, ob es sich bei dem Nadelöhr nicht vielleicht eher um das kleine Stadttor in Jerusalem gehandelt hat und ob das Kamel nicht doch ein Schiffstau (griech. „kámilos“) war. Beides verneint der Autor. Es bleibt der Anstoß für die Jünger, das größte in Palästina lebende Tier der kleinsten denkbaren Öffnung gegenüber zu sehen, was die Chancen für den Reichen, ins Himmelreich einzugehen, auf null reduziert.

Insgesamt besticht Häfners Buch durch die Präsentation historisch-kritischer Bibelexegese auf hohem Niveau mittels klarer Sprache, die auch den Nicht-Fachmann anspricht. Dem Autor gelingt es, die Fragwürdigkeiten und Dunkelheiten biblischer Texte zu erhellen, ohne dabei in Relativierung zu verfallen. So werden die „Anstößigkeiten“ zu „Anstößen“ im positiven Sinn und legen die Grundlage für eine informierte, aber nicht desillusionierte Bibellektüre.

Freiburg: Herder Verlag. 2017
220 Seiten
22,00 €
ISBN 978-451-37697-9

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