Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Gerhard Mevissen: IM WEITER ZUHAUS 2

Unter den bildenden Künstlern der Gegenwart ist der in Monschau/Nord-Eifel lebende Gerhard Mevissen nicht zufällig einer der stillen, denn er wendet sich der mystischen „Stille hinter der Stille“ bewusst zu. Sie ist Thema seiner kontemplativen Werke und Movens seines Schaffens, das er als ein „Loslassen von Herangereiftem“ zum rechten Zeitpunkt schildert und vom gezielten Produzieren unterscheidet.

Der 1956 in Heinsberg geborene Künstler und fünffache Vater fand erst nach Theologiestudium und sozialpädagogischen sowie kunsttherapeutischen Ausbildungen 1999 zur freischaffenden Kunst. Bereits zwei Jahre später erhielt er den Kunstpreis des Deutschen Blindenhilfswerks: Mevissen entwickelte spezielle Druckverfahren, die den Druckstock als ein ertastbares Relief jeweils zu einem Teil des gesamten Kunstwerkes werden ließen – so etwa innerhalb der Ausstellung „Bildraum Blindgänge“ im Wilhelm Lehmbruck Museum Duisburg, in der Stadtraum-Modelle, die zugleich als Matrizen dienten, optisch wie taktil erlebt werden konnten.

Der nun vorliegende umfangreiche Katalog „IM WEITER ZUHAUS 2“ macht mit 138 hochwertigen Farbreproduktionen neben Objekten der damaligen Ausstellung auch die Werkzyklen „Goslarer Fundamente“, „Zeitheftungen“ und „Buchorte“ erfahrbar und schließt das Lebenswerk bis ins vergangene Jahr hinein auf. In der hervorragenden Bildqualität und -fülle – ergänzt durch fotographische Raumeinblicke in Ausstellungen – schlägt sich die Großzügigkeit von 37 Sponsoren nieder, die die Erstellung des von Mevissen selbst konzipierten Buches unterstützt haben. In der ikonographisch sinnvollen Anordnung der zumeist etwa Din A4 großen Wiedergaben, unterbrochen durch religiös konnotierte Reflexionen und interpretierende Texte von sechs Autorinnen und neun Autoren (in denen leider dezidiert kunsthistorische Einordnungen fehlen), wandert der Leser durch das „beredte Schweigen“ der Bilder Mevissens. Immer wieder leuchten bei erneuter Betrachtung andere Aspekte in den bewusst auf Vieldeutigkeit und Kipp-Momente angelegten Formen auf: So erscheint in „Fährte Mensch II.12.7 – Emmausweg“ (70), einem Aquarell in Rostrot, Ocker, Gold und Orange, die zentrale Gestalt je nach Betrachterperspektive von oben als geteilter Brotlaib oder von der Seite als Wirbelsäule mit ihren einzelnen Wirbeln und Andeutung einer zentralen menschlichen Figur eng zwischen zwei Begleitern, wie Thomas Menges konzise herausarbeitet (71). Emmaus-Mahl und Emmaus-Gang werden so in einem einzigen Bildzeichen verdichtet.

Vorgefundene Inspirationsobjekte wie mittelalterliche Handschriften oder Mauerreste, etwa Steine der Stiftskirche Sankt Georg in Goslar, empfindet der Künstler als indexikalische Zeichen, die ihre Bedeutung in sich selbst tragen, aber durch Zeichnung, Aquarell-Bearbeitung und spiegelbildlichen Abdruck enthüllen (25); das Bild wird für Mevissen – darauf weist Peter-Paul König hin – paradoxerweise deutlicher, indem es sich auflöst. In Zeichnungen der „Zeitheftungen“ erscheinen Lederknoten, die kostbare Handschriften über Jahrhunderte zusammenhielten, im Abdruck der Bleistift-Frottage als Miniaturen von Mönchsfiguren (vgl. Harald Horst, 105). Auch hier verweist der Aspektwechsel der Motivdeutung auf eine innere Sinnbeziehung: Die Buchbindungen hielten das Wissen ebenso zusammen wie die klösterlichen Gelehrten, die es für unzählige Generationen tradierten. Gleichfalls kann die Frottage des oberen Buchschnitts der Medulla Theologiae Moralis von 1701 durch die starke Rundung ihres Buchrückens auf dem Blatt „ecce homo/ecce liber“ (167) als Fingerkuppe gesehen werden; Linien der Seiten ähneln hier den Papilarlinien der menschlichen Hand: Die Bedeutung des Fingerabdrucks eines einzigartigen Menschen, seine Identifizierbarkeit, spiegelt sich in der Geschichte des Geistes und seines Tastens und Begreifens, Seite für Seite. Das gänzlich vertikal angelegte Motiv des Blattes „Heilsleuchten zwischen Buchseiten“ aus demselben Zyklus (172), sein zwischen den aufrecht strebenden Seiten hervorbrechendes Orange, unterstreicht die vitale und erlösende Kraft, die der Künstler der Schrifttradierung zuspricht, wie auch das Bild des Licht sprühenden, steil nach oben geöffneten „Buchbrunnens“ (162). Die Bildsprache nur angedeuteter, oft fixierbildartiger Gegenständlichkeit intendiert einen lebendigen Wechsel von Aspekten, ein immer wieder neues Sehen: Das Vordergründige wird so stets überschritten und damit transzendentes Wirken gleichsam visualisiert. Die Erfahrung des Erkennens vermittelt die Gewissheit von Heimat im ständigen Weitersehen und -gehen.

Von hoher Intensität sind nicht zuletzt jene Werke aus dem „Zweistromland zwischen freiem Schauen und spirituellem Erleben“ (Mevissen, 175), die sich weiblich geprägter Mystik widmen, wie das „Taufkleid/Kreuzgewand Edith Stein“, dessen Erdfarben sich vom blütenweißen, ebenfalls kleid- oder T-förmigen Hintergrund absetzen und es damit zugleich zum Lebenskleid und Leibrock Christi machen; die erdige und blutige Anmutung dokumentiert das Gefühl Edith Steins, zugleich verletzt und geheilt worden zu sein (Brigitte Schmidt, 123). Christiana Reemts (OSB), Äbtissin der Abtei Mariendonk, eröffnet den Band – freilich nach dem Vorwort von Siegfried Schmidt – mit einem Poem, in dem es zum Werk „Einschlag Herzhöhe“ heißt: „Immer kommt zuerst die Wunde, der Schmerz, viel später in sie hinein der Himmel“ (13).

Eine spezifisch weibliche Ausformung der bei Mevissen stets verheißungsvollen Vertikale bilden drei aquarellierte, ganz schmal und ineinander verschlungen nach oben steigende Linien in „Sara/Maria heilsschwanger“ aus dem Zyklus „Hortus Conclusus“ (88): Sie weiten sich im obersten Bildviertel zu einer braun umrandeten Gebärmutter mit einem leuchtenden organischen Innenleben – Andeutung eines Embryos; die Vertikale gibt sich als Nabelschnur zu erkennen. Die zugleich alt- wie neutestamentarische „Heilsschwangerschaft“, in der sowohl das Volk Israel als auch der Messias (und mit ihm das Hoffnungslicht für alle Menschen) ausgetragen werden, ist eines der vielen subtilen Bildgeschenke Mevissens, die ungeachtet ihrer Reproduktion auf Katalogpapier eine tiefe, lichtvolle Ruhe ausstrahlen.

Monschau: Selbstverlag 2022
192 Seiten m. farb. Abb.
39,00 Euro
ISBN 978-3-00-072351-3

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