Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hans Goller: Wohnt Gott im Gehirn?

Warum die Neurowissenschaften die Religion nicht erklären

Hans Goller verspricht einen „Einblick in die Untersuchungsergebnisse der Neurotheologie und der Nahtodforschung“. Das wird vor allem angestrebt durch ausführliche Referate einschlägiger Bücher und Artikel. Referiert wird in Konjunktiv, indirekter Rede und Indikativ, ohne dass ersteres Distanzierung und letzteres Zustimmung bedeutete. Das macht es dem Leser schwer, Gollers eigene Position zu identifizieren.

Kapitel I widmet sich Mathew Alper, der erklärt, warum er vom Gläubigen zum Naturalisten wurde. Vor allem seien es die inneren Widersprüchlichkeiten der Weltreligionen und die nachweisliche chemische Beeinflussbarkeit des Gehirns, die für Alper beweisen, dass religiöse Erfahrungen eine Notlüge der Natur, ein palliativer Mechanismus seien, der – da kulturübergreifend – genetisch bedingt sein müsse. Daraus folgt für Alper auch, dass religiöse Erfahrungen in bildgebenden Verfahren der Gehirnforschung erkennbar und neurobiologisch erklärbar seien. Er vermutet die Funktion religiöser Erfahrungen in einer Ausschaltung der Ich-Funktion, da „die Betroffenen sie als ozeanisch, als grenzenlos und als euphorisch“ beschreiben. In seiner Zusammenfassung weist Goller darauf hin, dass Alper keinen Sinn für die reiche Erlebnisvielfalt religiöser Erfahrungen hat, und auf die Erklärungslücke zwischen dem bewussten Erleben und den Hirnprozessen. Das selektionistische Vorurteil, nach welchem jede Erklärung überzeugt, die sich auf einen vermuteten Überlebensvorteil und die „Mechanismen“ der Selektion beruft, bleibt unbeantwortet.

Kapitel II referiert (1) Experimente, in denen meditationserfahrene Menschen – manchmal zusammen mit einer Kontrollgruppe – mehr oder weniger riskanten neurologischen Untersuchungen ausgesetzt werden, (2) den Vergleich von religiöser Erfahrung mit Epilepsie, und (3) das nie solide verifizierte Experiment Michael Persingers zur Auslösung religiöser Erfahrungen durch Magnetstimulation.

Kapitel III verspricht eine Auseinandersetzung mit grundlegenden Problemen der Neurotheologie. Hier kommen Thomas Fuchs („Das Gehirn als Beziehungsorgan“) und Alva Noe („Du bist nicht dein Gehirn“) zu Wort, aber nur sehr knapp und ohne Darstellung der Grundkonzeptionen dieser Autoren. Viel zu kurz sind die Bemerkungen zum Zeiterleben, zum Verhältnis von Erlebnis- und Beobachterperspektive. Diese wissenschaftsphilosophischen Zugänge haben zwar nichts mit „Neurotheologie“ zu tun, entziehen ihr aber bei Licht betrachtet von vorneherein die Grundlage.

In seiner Zusammenfassung sagt Goller mit vollem Recht: „Was zur Zeit an Befunden über die neurobiologischen Grundlagen des religiösen Erlebens vorliegt, ist mehr als dürftig.“ Das liegt aber nicht an zu geringen Probandenzahlen oder unzureichender zeitlicher und räumlicher Auflösung der Experimente, die Goller mehrfach kritisiert, sondern das Problem ist viel grundlegender: Dass sich Praktiken, wie sie von buddhistischen Mönchen, Karmelitinnen und Franziskanerinnen praktiziert werden, in der Gehirnaktivität auswirken, ist an sich nicht aufschlussreicher als dass man ihre Wirkung auf Muskelspannung oder Blutdruck nachweisen kann. „Entspannung“ ist aber nicht „Religion“ – allenfalls räumt sie die alltägliche Ablenkung beiseite, die uns sonst hindert, an Gott zu denken.

Kapitel IV widmet sich der Forschung rund um Nahtoderfahrungen und bietet einen Querschnitt von Beispielen. Repräsentativität und Aussagekraft der ausgewählten Beispiele werden nicht geprüft. Goller argumentiert anhand einer Untersuchung von Parnia, dass Patienten bei „Sauerstoffmangel … mit akuter Verwirrtheit, mit Bewusstseinstrübung und Denkstörung“ reagieren; selbst wenn man demnach mit den Kritikern der Nahtoderfahrungen annimmt, dass auch dann, wenn keinerlei Gehirnaktivitäten mehr nachweisbar sind, dennoch solche stattfinden könnte, bleibt eine Erklärungslücke: „Verifizierbare Erfahrungen von Herzstillstandspatienten während einer außerkörperlichen Erfahrung legen nahe, dass es ein klares Selbstbewusstsein … ohne funktionierendes Gehirn gibt.“

Wer sich heute mit Neurowissenschaften befasst, sollte auf die aktuelle Krise des Faches eingehen. [Siehe zum Beispiel: Bareither/Hasler/Strasser: „9 Ideen für eine bessere Neurowissenschaft“, Spektrum der Wissenschaft 2.1.2015]. Zur Krise kam es, weil bildgebende Verfahren – insbesondere radiologische Methoden und das MRT – öffentlichkeitswirksam auf Fragestellungen angewendet wurden, für die sie weder gedacht noch geeignet sind. Es kann bei heutigem Kenntnisstand ausgeschlossen werden, dass einzelne Bewusstseinsinhalte – z.B. „Ich erkenne meinen Freund an der Stimme.“ oder „Ich spiele eine Melodie auf der Blockflöte.“ – einer oder wenigen benachbarten Zellen zugeordnet oder anatomisch im Gehirn verortet werden können. Das „neurologische Korrelat“ unserer Gedanken vermutet man in ad hoc zusammenarbeitenden Verbänden aus rund 10.000 Zellen mit Millionen Verbindungen. Wie das funktioniert, ist bis heute nicht nur nicht erforscht, sondern Methoden zur Erforschung dieser Zellensembles befinden sich im Entwurfsstadium. Es fehlt eine „Theorie des Gehirns“ [Bareither/Hasler/Strasser a.a.O.]. Darum wollen kritisch denkende Neurowissenschaftler weg von all den voreiligen Behauptungen über das gehirnphysiologisch richtige Lernen, die Widerlegung des freien Willens, die durch die Gazetten geistern, und natürlich auch von der Neurotheologie. 

2008 hat Ulrich Schnabel in seinem Buch „Die Vermessung des Glaubens“ naturwissenschaftliche Untersuchungen zu Religion, Gehirn, Evolution und Gesundheit kritisch gesichtet. Dem summarischen Urteil Schnabels ist zuzustimmen: „Vorurteilsfreie Studien fehlen.“ Und sie fehlen deshalb, weil wir auch dann, wenn wir im Flackern auf dem Bildschirm „religiöses Erleben“ vermuten und meinen ganz objektiv heranzugehen, nicht ausblenden können, was für je mich „religiöses Erleben“ bedeutet. Denn dieses ist mit keiner bekannten Methode eindeutig identifizierbar. Für diese Erkenntnis benötigt man aber das Wissen um die so breit referierten „neurotheologischen“ Experimente nicht. Goller hätte deshalb besser daran getan, die naturphilosophischen Studien des dritten Kapitels zum Ausgangspunkt seiner Recherchen und Interpretationen zu machen.

So hat sein Buch eine große Schwäche: Überblicksinformationen fehlen ebenso wie ein klares „Programm“; nirgends wird der Gegenstand abgegrenzt. Wenn Goller an zwei Stellen im Buch anatomische Einheiten im Gehirn auflistet, die angeblich bei „religiösen Erfahrungen“ aktiviert werden, hätte er zuvor den Leser in die Lage versetzen müssen, mit diesen Listen etwas anzufangen. Um der Urteilsfähigkeit des Lesers willen wäre zwingend nötig gewesen, auf die Leistungsfähigkeit der beschriebenen Forschungsmethoden einzugehen.

Kaevelaer: Butzon & Bercker Verlag. 2015
296 Seiten
22,99 €
ISBN 978-3-7666-1957-0

 

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