Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hartmut Rosa: Demokratie braucht Religion

In diesem kleinen Büchlein ist neben dem Vorwort von Gregor Gysi ein Text abgedruckt, der im Wesentlichen, wenn auch nicht ganz wörtlich, den Vortrag wiedergibt, den der inzwischen recht bekannte Jenaer Soziologie Hartmut Rosa beim Würzburger Diözesanempfang am 17.01.2022 gehalten hat. Er wurde online übertragen und kann noch heute auf YouTube angesehen werden. Der ursprüngliche Titel, unter dem der Vortrag angekündigt war, lautete: „Rasender Stillstand? Individuum, Kirche und Gesellschaft im Angesicht der Krisen – ein soziologischer Bestimmungsversuch.“ Dieser Titel trifft das Thema eigentlich besser, denn zur Frage, ob Demokratie Religion wirklich braucht, wird erst am Ende des Textes etwas gesagt.

Entsprechend der grundlegenden Thesen, die Rosa in anderen Werken bereits eingehend dargestellt und begründet hat, kennzeichnet er den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft als „rasenden Stillstand“. Einerseits steht sie unter ständigem Steigerungsdruck, andererseits fehlt es ihr offenbar an der Fähigkeit, sich auf die künftigen Herausforderungen in innovativer Weise einzustellen. Rosa will seine Leserinnen und Leser bzw. Zuhörerinnen und Zuhörer davon überzeugen, dass Kirche und Religion in der Krisensituation der Gegenwart gebraucht werden. Sein Hauptargument scheint zu sein, dass es dieser Gesellschaft vor allem am „hörenden Herzen“ mangelt und Kirche und Religion dazu beitragen können, dieses Defizit zu mildern.

Diese These wird in den Kirchen sicher gerne gehört. Trotzdem fand ich seine Darstellung reichlich unterkomplex. Zum einen werden die Schattenseiten von Religionen, die sich ja auch in der römisch-katholischen Kirche gezeigt haben, gar nicht erwähnt. Zum anderen spricht er zur Charakterisierung der Gegenwartsprobleme viel zu pauschal vom „Wachstumszwang“, ohne zu sagen, welche Art von Wachstum vermieden werden muss und welches Wachstum vielleicht sogar dringend gebraucht wird. Das übliche Maß für Wachstum, nämlich eine Zunahme des Bruttoinlandprodukts, ist jedenfalls kein geeignetes Maß, um nachhaltiges von nicht nachhaltigem Wachstum zu unterscheiden. Eine konsequente sozio-ökonomische Transformation, wie wir sie – leider ebenfalls beschleunigt – zur Bekämpfung der Erderhitzung brauchen, wird mit einem Wachstum des Bruttoinlandprodukts einhergehen.

Hinsichtlich der Demokratie konstatiert Rosa zu Recht einen Wandel der politischen Kultur, der dazu führt, dass Verständigung und eine vernünftige Suche nach Lösungen in den öffentlichen Debatten offenbar immer weniger Chancen haben. Verständigung ist aber selbstverständlich nur möglich, wenn Menschen aufeinander hören, sich aufeinander einlassen, die Interessen der anderen wahrnehmen und auf dieser Grundlage nach Lösungen suchen. Hier bringt Rosa nun die Bitte des Königs Salomo „Gib mir ein hörendes Herz!“ ins Spiel, wobei er dies unter Bezug auf Bruno Latour durch das Wort „aufhören“ mit der nötigen Entschleunigung in Verbindung bringt. Er schließt daran die These an, dass es insbesondere die Kirchen seien, die dazu beitragen könnten, eine Kultur des Aufeinander-Hörens zu stärken.

Sicher haben Kirchen und Religionen entsprechende Potenziale. Jedoch habe ich durchaus den Hinweis darauf vermisst, dass es jedenfalls derzeit in der römisch-katholischen Kirche durchaus ein massives Defizit des Aufeinander-Hörens gibt, so dass sie derzeit nicht wirklich ein gutes Beispiel dafür abgibt. Man kann seine aufmunternden Worte, die übrigens ähnlich klingen wie der Wunsch Gregor Gysis, der befreiende Gehalt religiöser Ideen möge nicht verloren gehen, freilich auch als einen Aufruf an die römisch-katholische Kirche lesen, durch echte Reformen dieses Potenzial, das der Gesellschaft sicher sehr guttun würde, endlich freizulegen, anstatt es weiter ständig noch mehr zu verdunkeln.

Mit einem Vorwort von Gregor Gysi
München: Kösel Verlag. 2022
77 Seiten
12,00 €
ISBN 978-3-466-37303-1

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