Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Heinrich Timmerevers / Thomas Arnold: Gefährliche Seelenführer?

 

Diese Publikation enthält die auf dem Kongress unter gleichnamigem Titel in der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen gehaltenen Vorträge. Das Themenheft bietet einen sehr guten Überblick über Vielfalt und Mehrdimensionalität des sog. geistigen und geistlichen Missbrauchs. Bischof Heinrich Timmerevers verweist auf die Verpflichtung, sich als Kirche umfassend zu sensibilisieren, um sie so als sicheren Ort einer gemeinsamen Glaubenserfahrung gestaltbar zu machen. Hierfür gilt als Voraussetzungen eine präzise Analyse von Mechanismen und Umständen, die einen geistlichen Missbrauch zulassen. Im Weiteren stellt er fest, dass geistiger und geistlicher Missbrauch dem sexuellen vorausgehen. Eine vermeintliche, missbräuchlich im Voraus geschaffene Vertrauens- und Glaubensbeziehung wird ausgenutzt. Umso entscheidender ist es, Seelsorge zu begreifen als reine Unterstützung der Gottesbeziehung des jeweiligen Mitmenschen oder als einen gemeinsamen Wachstumsprozess in der Beziehung zu Gott.

Auf die theologischen Aspekte des sog. geistlichen Missbrauchs geht Bischof Felix Genn ein, der eine absolute Transparenz und Offenheit dem Thema gegenüber einfordert. Andernfalls nimmt die Problematik noch stärkere Züge an. Gleichzeitig zeigt er aber auch auf, dass die dem Begleiter auferlegte Schweigepflicht in einer geistlichen Begleitung eine Begrenzung (forum internum) zum notwendigen Schutz nach außen findet. Den stattfindenden Machtmissbrauch, der einer Verzweckung der Gottesbeziehung des Gegenübers gleichkommt, befriedigt die Bedürfnisse des Täters und stellt, so Genn, eine incurvatio in se ipsum dar, eine Verkrümmung der Sinnrichtung des Menschen. Statt Gott zu suchen, wird hier auf den Täter und dessen Ziele hingearbeitet.

Stephanie Butenkemper gibt einen Überblick über Bedingungen und Strategien geistlichen Missbrauchs. Dabei ist es der Autorin wichtig zu erwähnen, dass jeder Mensch geistlichen Missbrauch erfahren kann. Diese Aussage gilt besonders den Menschen, die sich anhand der Zugehörigkeit zu einer geistlichen Gemeinschaft einen Familienersatz erhofften und in der Folge unter Schuldgefühlen und Selbstzweifeln leiden. Denn besonders diejenigen, die nach Sinn und Lebenserfüllung suchen, werden schnell von radikalen christlichen Gruppierungen angesprochen, die ein System von umfassender Kontrolle, totaler Anbindung und Indoktrination verkörpern. Umso schwerer wird es dann für den Einzelnen, sich – oft nach einem jahrelangen Prozess – wieder zu lösen und einen Weg zurück „in die Welt“ zu finden. Eine mögliche Hilfestellung für die Opfer ist das Brechen des Schweigens von Missbrauch seitens der Kirche in der Öffentlichkeit. Damit werden die Betroffenen aus ihrer Isolation und ihren persönlichen Ängsten und Verunsicherungen befreit, die darin bestehen, nach ihren traumatisierenden Erfahrungen kein Vertrauen mehr in sich selbst zu haben. Dem stimmt Katharina Anna Fuchs, Diplom-Psychologin, zu. Sie sieht im Schweigen zum Missbrauch die Möglichkeit dessen Fortbestehens. Manipulation und Kontrolle sind zentrale Elemente, um Missbrauch zu konstituieren.

Geistlicher Missbrauch entsteht oft dann, so Stefan Hoffmann, wenn Verantwortliche und geistliche Begleiter davon überzeugt sind, zu wissen, was für den anderen gut ist. Es wird über den Kopf des anderen hinweg bestimmt und unter dem Vorzeichen des Gehorsams Dinge eingefordert, selbst wenn diese den Betroffenen schaden und krank machen. Hoffmann warnt vor „göttlich legitimierten Anordnungen“, die Vorgesetzte für sich beanspruchen und damit Menschen regelrecht zerstören können.

Die Frage nach dem, was mit Missbrauch aus psychoanalytischer (C.G. Jung) und spiritueller Sicht gemeint ist, wird von Klaus Baumann und Eckhard Frick erörtert. Günter Klug untersucht die systemischen Grundlagen geistigen Missbrauchs, den es in allen gesellschaftlichen Bereichen gibt. Aus theologischer Sicht beschäftigt sich Andreas Lob-Hüdepohl mit der Gewissensbildung, die innerhalb der geistlichen Begleitung Unterstützung finden darf. Geistliche Begleitung darf diese aber nicht ersetzen. Religiöser Gehorsam ist deshalb an eine verantwortungsbewusste Haltung geknüpft (vgl. c. 212 CIC), die mit der persönlichen Freiheit und dem Anspruch an das eigene Gewissen einhergehen muss.

Der Liturgiewissenschaftler Benedikt Kranemann fordert eine Stärkung in der liturgischen Bildung, die auch eine Verständigung über jeweilige zeitgemäße und achtsame liturgische Formen impliziert und damit einen Machtmissbrauch verhindern soll. Dabei betont er die nötige Reife eines die Liturgie vollziehenden Priesters. Dominique-Marcel Kosack untersucht „Autoritäten des Glaubens“ unter dem Aspekt eines von Macht geprägten Vermittlungsgeschehens. Exemplarische Fälle von geistigem und geistlichem Missbrauch betrachten Thomas Sternberg / Hubert Wissing. Schließlich zeigt der Kirchenrechtler Gerhard H. Hörting einzelne dem Codex Iuris Canonici zugrundeliegende Normen auf und nennt die entscheidenden Aspekte bei der Anwendung kirchlichen Rechts. Das Themenheft endet mit einem Interview zwischen Vertretern von missio Aachen über die Studie „Missbrauch an Ordensfrauen“ und einem Beitrag über die Chancen geistlicher Begleitung hinsichtlich des Entdeckens von Gottes Gegenwart und eigener Stärken. Stefanie Lieb bespricht den im Heft vorgestellten Bilderzyklus von Michael Morgner.

Geistiger und geistlicher Missbrauch
Herder Thema
Freiburg: Herder Verlag. 2020
64 Seiten m. Abb.
14,00 €
ISBN 978-3-451-02747-5

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