Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Heinz-Peter Meidinger: Die 10 Todsünden der Schulpolitik. Eine Streitschrift

„Deutschlands oberster Lehrer“ – so titulieren ihn deutsche Leitmedien – Heinz-Peter Meidinger, ehemaliger Schulleiter und Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, hat ein Buch geschrieben; ein kurzes, informatives und wichtiges Buch, in dem der Autor in nüchterner Argumentation und schnörkelloser Sprache den Finger in die Wunde der deutschen Bildungs(politik)misere legt. Während Politiker, besorgt um ihren Ruf oder das sprichwörtliche Bild in den Geschichtsbüchern, in den entsprechenden Veröffentlichungen am Ende ihres Berufslebens einige ihrer zuvor eisern verteidigten Prinzipien fahren lassen und sich mit Hinweis auf Zwänge der Globalisierung, Zeitenwandel u.Ä. gönnerhaft dem Zeitgeistgeschmack des harmoniebedürftigen Mittelmaßes annähern, bleibt Meidinger sich und damit in erster Linie auch den Schülerinnen und Schülern dieses Landes treu und übt herbe Kritik an Fehlentwicklungen, die zum großen Teil in den ideologischen Verblendungen und sozialromantischen Vorstellungen einschlägiger Protagonisten in Feuilleton, Pädagogik und Bildungsadministration wurzeln.

Seine „Streitschrift“ gliedert Meidinger, der sich als „niederbayerischer Katholik“ bekennt, in zehn „Todsünden“. Mit dieser Terminologie betreibt der Autor nicht nur das in post-religiöser Zeit übliche ironische Spiel mit einer inhaltslos gewordenen Begrifflichkeit zur intellektuellen Erbauung des Publikums, sondern bewegt sich durchaus auf solider anthropologisch-theologischer Grundlage, wenn er definiert: „Todsünden sind also keine einzelnen Fehlhandlungen, sondern die tieferen Ursachen oder kurz: der Urgrund zahlreicher weiterer Fehlhandlungen. […] Folgende Bedingungen müssen gegeben sein, damit man von einer Todsünde sprechen kann: Es muss sich um schwerwiegende Materie handeln. Die sündhafte Tat muss bewusst und aus freiem Willen begangen worden sein.“

Die letztgenannte Bedingung möchte man nicht so ohne weiteres den für die Kette „weiterer Fehlhandlungen“ Verantwortlichen unterstellen, zumal in der Moderne die Hypothese des freien Willens in Philosophie und Jurisprudenz erhebliche Probleme aufwirft. Dass es sich „um eine schwerwiegende Materie“ handelt, ist allerdings offen zu Tage getreten, als betroffene Eltern über die höchst verderblichen Auswirkungen einer falschen Interpretation des Textes der UN-Behindertenrechtskonvention auf die Schwächsten der Gesellschaft berichtet haben. Noch deutlicher als Meidinger selbst muss man im Hinblick auf die Inklusionspolitik an den Schulen statuieren, dass Verantwortliche bewusst Böses geschehen ließen, als behinderte Schülerinnen und Schüler aus dem hochspezialisierten und dennoch familiär geprägten Schutzraum Förderschule mit seinen vielfältigen Hilfsangeboten herausgerissen und in überfüllte Klassen überwiesen wurden, die pro Woche eine oder zwei Zusatzstunden durch Sonderpädagogen erhielten.

Neben der Inklusion werden in dem Buch „immer neue Reformsäue“ thematisiert: die Annahme, Schule sei „Reparaturbetrieb der Gesellschaft“; empirisch nicht überprüfte Bildungsideologien; der Neoliberalismus; das Dauerversagen des Bildungsföderalismus; das katastrophale Krisenmanagement bei der Bewältigung der Corona-Pandemie an Schulen; Bestnoteninflation und Niveauabsenkung; Unterrichtsausfall und Lehrermangel; die Vernachlässigung der beruflichen Bildung und die „fehlende Einbeziehung und Partizipation der Betroffenen“, also der Eltern, Lernenden und Lehrer.

Lehrerpräsident Meidinger ist kein Pessimist, dafür war er ein viel zu leidenschaftlicher Lehrer, Pädagoge und Schulleiter. Ihn treibt erkennbar der Wille zur Verbesserung der Bildungspolitik; wichtig ist daher seine Feststellung im Vorwort, dass „die deutschen Schulen besser sind als ihr Ruf. An deutschen Schulen wird tagtäglich tausendfach gute pädagogische Arbeit geleistet! Das liegt allerdings am Engagement der Lehrkräfte, Schulleitungen, Eltern und Schüler vor Ort.“ Der „niederbayerische Katholik“ glaubt an die Möglichkeit einer Metanoia, eines Bewusstseinswandels, zu dem er ebenfalls zehn Ratschläge gibt.

Gibt es an dem vorgelegten Werk etwas zu bemängeln? Zwei Kleinigkeiten vielleicht. In Entsprechung zu der Erläuterung des Begriffs „Todsünde“ hätte der mehrfach und immer nur pejorativ verwendete Terminus „Ideologie“ eine kritische Einordnung und Auseinandersetzung verdient, zum Beispiel unter der Perspektive, welche konstruktive Rolle Ideologien spielen können. Zweitens hätte er den von Rainer Dollase, einem der maßgeblichen deutschen empirischen Schulforscher, vorgetragenen Hinweis auf eines der verhängnisvollsten Grundübel im Bildungssystem erwähnen können: Im Gegensatz zu fast allen anderen Disziplinen (Medizin, Jura, Ingenieurwissenschaften) müssen sich Professoren der Pädagogik nie in der schulischen Praxis bewähren. Wäre dies anders und müssten vielleicht auch in der Bildungsadministration Tätige die von Ihnen durchgesetzten Reformen an den Schulen selbst konkretisieren, stünden die Aussichten auf eine vernünftige und pragmatische Schulpolitik erheblich besser.

München: Claudius-Verlag. 2021
126 Seiten
15,00 €
ISBN 978-3-532-62864-5

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