Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Heinz Schilling: Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa

 

Sieben Männer „von gutem Ruf und voll Geist und Weisheit“ wählte man, um die tägliche Versorgung der Witwen zu gewährleisten (Apg. 6, 1-7). Diese Szene dürfte eine der ersten sein, die von der Verflochtenheit der christlichen Gemeinschaft mit der „Welt“ Zeugnis ablegt. Eine Religion, die den Menschgewordenen ins Zentrum rückt, kann nicht vom Wort allein leben. Jesu wunderbare Maxime „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist (Mt. 22, 21), gibt dabei die Richtung vor, die Mühen der Ebene ersetzt sie nicht. So bietet die Kirchengeschichte in puncto „Nähe und Ferne“ zu Gesellschaft und Macht reichhaltigstes Anschauungsmaterial. Heinz Schilling, emeritierter Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit und renommierter Luther-Biograph, blickt in seiner Studie auf den Beitrag der Christen zum „Aufbruch in die Welt von heute“. Der Aufbruch ist in der Renaissance wie in der Reformation des 16. Jahrhunderts verankert.

Diese Wegmarken stellt Schilling in einen weiten Kontext, nennt die Jahrhunderte zwischen 1400/1450 und 1700/1750 eine der „Kernzeiten“ des Christentums. Denn die Reformation hatte einen – nicht immer beachteten! – Vorlauf in den spirituellen Aufbrüchen des Spätmittelalters, mündete nach vielerlei konfessionellen Wirren in der „frühen Moderne“. Das verweist auf vielschichtige Bewegungen, und dem Historiker dürfe es bei der Darstellung der kontroversen Details „weder um Anklage noch um Apologetik“ gehen, vielmehr „um ein sachgerechtes historisches Verstehen, das die zeitgenössischen Umstände berücksichtigt“. Diese Programmatik löst Schilling nicht zuletzt dadurch ein, dass er Antagonismen à la „Renaissance contra Reformation“ oder „Konfessionalismus contra Frühmoderne“ bedenkt und relativiert. Auch der selbstbewussteste „Renaissance-Mensch“, so der Autor, „blieb eingebunden in einen christlichen Heilszusammenhang, der seinem oder ihrem Handeln Sicherheit, Stärke und Legitimität gab“. Und die furchtbaren Kämpfe und Polemiken um die „richtige“ Konfession führten in der Folge zu „modernen“ Differenzierungen und Einsichten. Im günstigsten Falle dazu, dass man die Vielfalt der Glaubenswege als einen Reichtum, nicht lediglich als einen Bruch und einen Mangel betrachtete.

Die dichte, aber gut lesbare Studie entfaltet diese Entwicklungen – der Schwerpunkt liegt dezidiert auf dem „westlichen“, dem lateinischen Christentum – auch anhand von „Erfahrungsfeldern“, die manches Theoretische gut veranschaulichen. Der Autor blickt beispielsweise auf die „Stadtsässigkeit“ der Kirche, die in ihrer Konzentration auf Wortverkündigung und Seelsorge speziell in den protestantischen Gemeinden „zur Egalisierung und spirituellen Vereinfachung“ führte. Und wenn die öffentlichen Riten im Katholizismus weiterhin einen breiten Raum einnahmen, so führte der Wettkampf der Konfessionen hier zu einer merklichen Regulierung und Vereinheitlichung. Man könnte sagen: Viel religiöser Wildwuchs wurde angesichts der neuen Interessen und Geschäftsfelder der Stadtbevölkerung beschnitten. Schilling kann ganz allgemein von der „Disziplinierung“ sprechen, die sich von da an in Gesellschaft und Ökonomie wie in Religion durchzusetzen begann: „Alle frühneuzeitlichen Konfessionskirchen wie auch manche der dissidierenden Religionsgemeinschaften, etwa die Täufer, entwickelten einen detaillierten Normenkanon, um ihre Dogmen zu sichern und ihren Mitgliedern eine Richtschnur zum richtigen Handeln in der Welt zu geben.“

Hochaktuelle Bezüge ergeben sich beim Blick auf die „Konfessionsmigration“. Rund eine Million Christen machten sich damals auf den Weg, um ihr spezifisches Bekenntnis entfalten zu können. In gewissem Sinne teilten sie dadurch das Schicksal der Juden, für die Flucht und Vertreibung nur allzu bekannte „Erfahrungsfelder“ waren. Für die „bevorzugten Fluchtziele“ erzeugte die Migration „ein außerordentlich dynamisches Geschehen, religiös-kirchlich wie politisch, sozial und vor allem wirtschaftlich“. Ausdrücklich verweist Schilling auf die gegenwärtige globale Migration, bei der man Parallelen und wesentliche Unterschiede zum damaligen Geschehen beobachten kann. Die „westlichen“ Gesellschaften des beginnenden 21. Jahrhunderts seien zum wichtigen Teil „säkularisiert und entkirchlicht“, was die Akzeptanz der – insbesondere muslimischen – Migranten sowohl erleichtert auch als zu einer unbequemen Herausforderung macht. Wer die Spezifika des heutigen Europas, eines Europas in Bewegung, aus seiner Geschichte besser verstehen möchte, dem sei Heinz Schillings Studie empfohlen.

Aufbruch in die Welt von heute
Freiburg: Herder Verlag 2022
472 Seiten, m. s-w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-451-38544-5

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