Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Holger Zaborowski: Tragik und Transzendenz

Nicolaus Cusanus (1401-1464) schreibt: „Außerhalb des Denkbaren wird nichts gedacht. Alles Denkbare im Denken ist das Denken selber. Es wird also verbleiben nichts als das reine Denken selbst, das nicht denken kann, daß etwas außerhalb des Denkbaren existiert.“ Dieses Denken könnte man auf den ersten Blick neuzeitlich nennen, es könnte von Fichte oder Hegel stammen. Doch gibt es hier einen grundlegenden Unterschied, der das mittelalterliche vom neuzeitlichen Denken scheidet. Es ist die selbstverständliche Anerkennung der heilsgeschichtlichen Bedeutung des Offenbarungsgehaltes der Bibel.

Holger Zaborowski setzt in seiner Spurensuche nach dem metaphysisch Transzendenten bzw. nach seiner auf es verweisenden Leerstelle in der Gegenwartsliteratur mit der Frage nach „Mythos, Religion und Metaphysik im Werk Harry Mulischs“ ein. Mulischs biografischer Bezug auf Cusanus wird aus seiner Kunsttheorie heraus verständlich. Der Schriftsteller (und allgemein der Künstler) erschaffe eine Welt und mit dieser Welt auch sich selbst ein Stück weiter. Gegenüber der unpersönlichen Technik gestaltet die Kunst aus dem Geheimnis der Individualität heraus. Wenn diese als Ort aller Wirklichkeit absolut gesetzt wird, schleicht sich das Bewusstsein der Absurdität ein, weil dann alles seinen allgemeinen Wirklichkeitsbezug verliert. Mulisch schreibt einmal, einen von Sartre wiederholten Satz Dostojewskis aufgreifend, „Wenn alles absurd ist, so ist innerhalb dieses Absurden ausschließlich das Absurde nicht absurd!“ (17) Und wenn diese Absurdität ihre Basis in der modernen Technik hat, dann ist es, wie in dem berühmten Mulisch-Roman über „Die Entdeckung des Himmels“ erzählt wird, nur folgerichtig, wenn die Karten zwischen Himmel und Erde neu gemischt werden. Zaborowski schreibt anschaulich: Mulisch habe eine „Weltdeutung, die im strengen Sinne nicht mythisch, nicht metaphysisch und auch nicht religiös ist, sondern irgendwo dazwischen liegt … und die ihren Kern in der Einsicht findet, dass Wirklichkeit geheimnisvoll ist und sich nicht vollständig erklären lässt“ (19).

Diesem Interesse an Transzendenz, das sich in ein Interesse an Transzendenzförmigem und Metaphysikförmigem verwandeln kann, in der modernen Literatur nachzugehen, dienen auch die anderen Beiträge. Fjodor M. Dostojewskis „Jesus-Roman“ „Der Idiot“ und Andreas Maiers Roman „Sanssouci“ faszinieren, weil von Personen erzählt wird, in deren reiner Existenz sich die oben beschriebene Selbstanwendung des Absurditätsbegriffs und Transzendenzbezug verbinden. Dostojewskis Fürst Myschkin ist in einer Weise als Nicht-Tätiger präsent bzw. besser wirkmächtig, dass er zum Symbol des ganz Anderen menschlicher Existenz wird. In einer düsteren, verkommenen Welt tritt er als Nicht-Handelnder auf und „geht weiter, lässt alle anderen einfach stehen, ohne dass er je etwas lehrte oder dozierte“(44).

Eine der Figuren in Maiers Roman ist der orthodoxe Mönch Alexej, der gerade durch seine rigide Zurückgezogenheit in einem Kloster etwas als Grenzfall menschlicher, vermeintlich passiver Präsenz bezeugt, was sich nicht als Heilslehre oder Kunstwerk oder gelebte Mitmenschlichkeit so klar präsentieren lässt. Zaborowski schreibt über ihn: „Daher mag man ihn, seine Figur, weniger als Zentrum als vielmehr als Fluchtpunkt des Romans bezeichnen, als jenen weit außerhalb des Geschehens liegenden, auf den hin alles, was geschieht, orientiert ist.“ (49)

„Junges Licht, altes Dunkel – oder: Von der Entdeckung der Freiheit“, so betitelt der Autor seine Anmerkungen zu Ralf Rothmanns „Junges Licht“. Unter dem Maßstab einer „Archäologie der Freiheit und der Entscheidung zu ihr“ (31) erzählt er eine Geschichte aus den 1960er Jahren, die im Ruhrgebiet spielt. Der zwölfjährige Julian versucht den Ehebruch seines Vaters mit einem jungen Mädchen zu verarbeiten, indem er zunächst die väterliche Schuld auf sich zu nehmen versucht. Belehrungen des Pfarrers auf der Ebene allgemeingültiger Vernunftargumente fruchten nichts. Was die Lösung des Problems, die Entscheidung für seine Freiheit, betrifft, verbindet sie diesen Roman mit dem Thema der oben skizzierten Analysen Zaboroswkis. Die spannungsreiche Perspektive besteht darin, dass sich in einer Kontrastharmonie und dabei nur für dieses eine individuelle Leben, das dadurch in sich Zeugnischarakter bekommt, „das große, nie recht auszuschöpfende und ausdrückbare Mysterium von Freiheit, Schuld und der Begegnung mit der Wirklichkeit, die Grund und Abgrund ist“ (35), auszeitigt.

Diesem Thema der nicht diskursiv darstellbaren Präsenz des ganz Anderen fügt der Autor zwei andere Schriftsteller hinzu, die jeweils auf ihre Weise so etwas wie eine sich selbst repräsentierende Insichständigkeit, ohne theoretische Aufarbeitungsmöglichkeit, haben. Im Spanien des 16. Jahrhunderts spielt das gigantische Drama „Der seidene Schuh“ (1925) von Paul Claudel. In seiner Länge wohl unspielbar, versucht es – nicht unbedingt anachronistisch, sondern nur pointiert gegen den gängigen Zeitgeist – auszuführen, dass sich in der „Unordnung der Welt … die tiefere Logik der Liebe und des Opfers (offenbart, L. H.). Dies ist die Logik der Inkarnation und des Kreuzes, die durchsichtig auf das Heilshandeln Gottes hin ist, auf jeden Plan göttlicher Vorsehung, der den Menschen Mitspieler sein lässt und der – Wort der Hoffnung – das Tragische nicht das letzte Wort behalten lässt“ (72).

Wie in der Musik übt sich Zaboroswki in der Kunst der Fuge und lässt verschiedene Stimmen im gleichen Themenkontext zu Wort kommen. Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf erschießt sich 2013, um dem Siechtum (Gehirntumor) zu entgehen. In seinem Blog „Arbeit und Struktur“ (http://www.wolfgang-herrndorf.de/) beschäftigt er sich schon drei Jahre vorher mit dem Thema Suizid. Als persönlicher Einzelfall lassen sich seine Gedanken aufgrund der Würde des Sterbeprozesses nicht ‚diskutieren‘. Und doch ist dieser Blog exemplarisch: „Der Einzelfall weist über sich hinaus und lässt etwas Allgemeines ans Licht kommen: Das Sterben zeigt sich gerade heute als etwas, das man irgendwie – mit den rechten Mitteln – ‚machen‘ oder bewirken möchte …“ (80). Die in der alten Kunst des Sterbens vorausgesetzte „Unverfügbarkeit des Todes“ (81) verliert dadurch ihre Schärfe und ihren Verweisungszusammenhang auf das unserer Erfahrungsmöglichkeit Transzendente.

Das letzte besprochene literarische Zeugnis ist Friedrich Dürrenmatts Drama „Der Besuch der alten Dame“, in dem mit einem Milliardenversprechen ein Dorf zum Mord motiviert werden soll und in dem gezeigt wird, wie durch dieses Versprechen die auf den künftigen Mord eingestellen Beteiligten ihre Würde riskieren und verlieren.

Das Buch Zaborowskis hält, was der Titel verspricht – und darüber hinaus motiviert es den Leser dazu, theologisch-komparatistisch als selbstständiger Spurensucher eine reizvolle Schneise in die moderne Literatur zu schlagen. Vom Umfang her ist es darüber hinaus eine passable Lektüre für Urlaubstage.

Spuren in der Gegenwartsliteratur
Ostfildern: Matthias Grünewald Verlag. 2017
113 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-7867-3091-0

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