Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Horst Dreier: Staat ohne Gott

Der Titel „Staat ohne Gott“ klingt nach einer atheistischen Streitschrift für eine Welt oder eine Gesellschaft ohne Gott. Bereits zu Beginn der Einführung stellt der Jura-Professor Horst Dreier, einer der renommiertesten Verfassungsrechtler Deutschlands, allerdings klar, dass dem keineswegs so ist. Denn die titelgebende Wendung zielt vielmehr auf den Umstand ab, dass sich der Staat in der modernen Grundrechtsdemokratie religiös-weltanschaulich neutral zu verhalten hat. Diese Neutralität des Staates und ihre Kehrseite – die Religionsfreiheit der Bürger – sind die beiden Säulen der Säkularität des freiheitlichen Verfassungsstaates.

Das erste Kapitel widmet Horst Dreier dem für das Buch grundlegenden Begriff der „Säkularisierung“, dessen Vieldeutigkeit die interdisziplinäre Diskussion erschwert. Ausgehend von deren begriffsgeschichtlichen Ursprüngen (Säkularisation) beschreibt er die semantische Erweiterung des Begriffs im 19. Jahrhundert als geschichtsphilosophischen Prozessbegriff moderner Entchristlichung und Loslösung der Religion von der Politik. Besonders differenziert beleuchtet Horst Dreier sodann die Säkularisierung im sozialwissenschaftlichen Sinne, verstanden als faktischer gesellschaftlicher Bedeutungsverlust der Religion, um seine Begriffsklärung mit der Säkularisierung im staats- und verfassungsrechtlichen Sinne abzuschließen, also die bereits eingangs erwähnte religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates und die Gewährung von Religionsfreiheit.

Im zweiten Kapitel gibt der Verfasser einen prägnanten Überblick über die Entwicklung der Religionsfreiheit in Deutschland, beginnend mit dem Augsburger Religionsfrieden (1555) über den Westfälischen Frieden (1648), das Preußische Allgemeine Landrecht (1794), den Reichsdeputationshauptschluss (1803), den Wiener Kongress (1814/1815), die Paulskirchenverfassung (1848/89), die Verfassungen Preußens (1850) und des Reiches (1871) bis zu der Weimarer Reichsverfassung (1919) und dem Grundgesetz (1949).

Den Schwerpunkt des Buches bildet sicherlich das dritte Kapitel, in dem Horst Dreier die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates mit ihrem Kerngehalt, dem Identifikations- und Privilegierungsverbot, analysiert. Daraus folgen die Trennung von Staat und Kirche, das Verbot für den Staat, sich mit einer bestimmten Religion zu identifizieren und bestimmte Bekenntnisse zu privilegieren, sowie der Verzicht des Staates auf religiöse Legitimation. Dass unser Rechtssystem gleichwohl durch das Christentum vielfältig geprägt ist, unterschlägt der Verfasser hierbei nicht. Im Anschluss erörtert er die Fragen, ob das Neutralitätsgebot, wie in der politischen Philosophie zum Teil vertreten (J. Habermas), auch Politik und Gesetzgebung Begründungsobliegenheiten auferlegt und ob religiöse Positionen im politischen Entscheidungsprozess unzulässig sind. Kritiker, die angesichts der grundgesetzlich geschützten Sonntagsruhe und der Institutionalisierung des Religionsunterrichts die Geltung des Neutralitätsgebotes anzweifeln, werden widerlegt. Anschließend geht der Verfasser auf zwei exemplarische Problemfelder ein: Zum einen die (offenbar mit Blick auf den Islam in jüngerer Zeit wieder diskutierte und von ihm mit guten Gründen verneinte) Frage, ob der Schutz der Religionsfreiheit eine gewisse „Kulturadäquanz“ voraussetzt (P. Kirchhoff), und zum anderen, ob das in einigen Landesverfassungen aufgenommene Bildungsziel „Ehrfurcht vor Gott“ gegen das Identifikationsverbot des Grundgesetzes verstößt.

Das vierte Kapitel handelt von zunehmend erkennbaren Tendenzen einer Sakralisierung (auch) in Staat und Politik. Horst Dreier benennt die Gefahren einer Verfassungssakralisierung (Grundgesetz als weltliche „Bibel“?) für die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers, die Freiheit der politischen Debatte sowie die moralische Freiheit der Bürger und erteilt auch Thesen einer Sakralisierung des Rechts eine klare Absage.

Dass Gott freilich im Grundgesetz selbst, und zwar in der Präambel, erwähnt wird, ist Gegenstand des fünften Kapitels. Horst Dreier zeigt sehr gründlich auf, dass dies die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates indes nicht schmälern kann. Im Anschluss an eine Bestandsaufnahme zum Gottesbezug in der deutschen Verfassungsgeschichte skizziert er die Genese des Gottesbezuges in der Präambel und belegt, dass es sich hierbei nicht um eine „invocatio Dei“ handelt, weil das Grundgesetz eben nicht im Namen Gottes ergeht, sondern um eine „nominatio Dei“, also eine bloße Demutsformel, die auf die Begrenztheit staatlicher Gewalt hinweist und im Wesentlichen in das Grundgesetz aufgenommen wurde, um ihm eine „sakrale Aura“ zu verleihen.

Thema des sechsten und letzten Kapitels ist das sog. Böckenförde-Diktum, der wohl populärste Ausspruch im staatsrechtlich-politischen Bereich: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.“ Horst Dreier zeigt die unterschiedlichen Bewertungen dieses Theorems auf, das einerseits in den 1970er Jahren gegen die Kritik der Kirche an den Reformen der sozialliberalen Koalition (insbesondere der „Liberalisierung“ der Abtreibung), mithin gegen die „Illusionen vom wertschaffenden Staat“ in Stellung gebracht und andererseits in den 1980er und 1990er – gerade entgegengesetzt – dazu benutzt wurde, um die Bedeutung der christlichen Kirchen für die moralischen und kulturellen Wertgrundlagen in der Demokratie zu betonen.

Insgesamt gelingt es Horst Dreier brillant, ein hochkomplexes Thema durch eine sorgfältige, scharfsinnige und äußerst anregende Darstellung so zu analysieren, dass sie als Pflichtlektüre für all diejenigen angesehen werden muss, die sich mit dem Verhältnis von Staat und Religion auseinandersetzen und sich an den aktuellen Debatten über Kruzifix, Kopftuch etc. im staatlichen Bereich beteiligen.

Religion in der säkularen Moderne
München: C.H. Beck Verlag. 2018
256 Seiten
26,95 Euro
ISBN 978-3-406-71871-7

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