Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Horst Junginger: Religionsgeschichte Deutschlands in der Moderne

Ob Reformationsjubiläum, Integrationspolitik, Antisemitismus oder auch Äußerungen von Religionsvertretern zur Homo-Ehe: Zahlreiche Anlässe sorgen dafür, dass Religion trotz schwindender Kirchenbindung und religiöser Praxis in der Bevölkerung ein viel und vor allem emotional diskutiertes Thema bleibt.

Zur Versachlichung der gegenwärtigen Debatten zur Stellung der Religion in der deutschen Gesellschaft will das Überblickswerk des Religionswissenschaftlers Horst Junginger beitragen, das in der Reihe „Geschichte kompakt“ der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft in Darmstadt erschienen ist. Diese religionsgeschichtliche Einführung verfolgt das Ziel, den „dynamischen Entwicklungscharakter religiösen Wandels“ (9) des 19. und 20. Jahrhunderts von einer fast durchgängig christlichen Gesellschaft hin zur weltanschaulichen Pluralität der Gegenwart darzustellen. Dabei reagiert sie auch auf die Notwendigkeit der historischen Auseinandersetzung mit der eigenen religiösen Tradition angesichts der wachsenden religiösen Unmusikalität vieler Menschen und drängender religionspolitischer Fragen (12). Als wissenschaftlicher Referenzrahmen dient dem Überblickswerk die gängige Methodik der Religionswissenschaft, deren vergleichend historisierende Außenperspektive und eigene Terminologie in Abgrenzung von der ansonsten methodisch und inhaltlich nahen konfessionell ausgerichteten Kirchengeschichte skizziert wird.

Bevor die großen Linien der historischen Entwicklung der Religionen in Deutschland präsentiert werden, geht der Verfasser zunächst auf den Wandel des Verhältnisses von Kirche und Staat seit dem 19. Jahrhundert ein. Dabei thematisiert er die konfessionelle Teilung des Alten Reichs und die religionspolitischen Ideen der liberalen und demokratischen Bewegungen sowie vor allem den Kulturkampf und das spannungsreiche Verhältnis der Kirchen zur Arbeiterbewegung bis in die Zeit der DDR.

Dem schließt sich eine ausführliche Betrachtung der christlichen Konfessionen an, wobei der Fokus auf der katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen liegt, aber auch die orthodoxen Traditionen ebenso wie Freikirchen und christliche Sondergemeinschaften charakterisiert werden. Den Auftakt der nicht-christlichen Religionsgeschichte bilden prägnante Ausführungen zum Judentum als der bedeutsamsten nicht-christlichen Religion der deutschen Geschichte. Den Durchgang rundet ein geraffter Blick auf Phänomene der jüngsten Geschichte seit 1945 ab, vor allem auf Muslime, aber auch auf Menschen buddhistischen und hinduistischen Glaubens sowie die unterschiedlichsten Formen esoterischer, freireligiöser und humanistischer Weltanschauungen in Deutschland. Unter „VI. Allgemeine Trends und Entwicklungslinien“ werden schließlich noch einmal die in ihrer Langzeitwirkung geschilderten Größen wie Religionsfreiheit, religiöse Sprach- und Begründungsfähigkeit und Religionspluralismus zusammenfassend behandelt und für die gegenwärtige Debatte herangezogen.

Jungingers Einführung ist ein größtenteils gelungener Zugang zu den wesentlichen Stationen der deutschen Religionsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte. Die klar verständliche Aufbereitung der Inhalte wird erfreulicherweise um Auszüge aus historischen Quellen, graphische Darstellungen, zeitgenössische Bilder (Fotos, Karikaturen) und begriffsklärende Informationskästen (von „Enzyklika“ bis „Sekte“) ergänzt, die das Verständnis der geschilderten Phänomene erleichtern. Die kommentierten Literaturhinweise zur Vertiefung sowie die am Ende aufgeführte Liste von Standardwerken sind überzeugend. 

Aus kirchenhistorischer Sicht sind jedoch ein paar Anfragen an das Werk zu richten. Da die Französische Revolution, die Säkularisation von 1802/03 und die antiliberale Kirchenpolitik Gregors XVI. nicht in den Blick geraten, werden historische Fakten nicht erfasst, die etwa für die Entwicklung der Religionsfreiheit und des Kirche-Staat-Verhältnisses entscheidend waren. Die entsprechenden Passagen bleiben daher hinter dem eingangs formulierten Anspruch des Verfassers zurück. Dagegen werden interessante, aber nicht elementare Aspekte (z.B. Wilhelminismus, kirchlich engagierte SPD-Mitglieder) breiter behandelt. An einzelnen Stellen (Protestantismus und Moderne; katholische Aufklärung; Ökumene; II. Vatikanisches Konzil) treten klischeehafte Schilderungen zutage, die durch einen interdisziplinären Dialog mit der (kirchen-)historischen Forschung leicht hätten vermieden werden können. Wer sich für diese skizzierten Spezialthemen interessiert, wird allerdings mit guten Literaturhinweisen versorgt. Deshalb ist Jungingers Einführung für einen fundierten Einstieg in die deutsche Religionsgeschichte der Moderne gut zu verwenden – gerade auch in religiöse und weltanschauliche Lebensweisen jenseits des eigenen kirchlichen Tellerrandes

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 2017
160 Seiten m. Abb.
19,95 €
ISBN 978-3-534-25811-6

 

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