Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hubert Wolf: Der Unfehlbare

Wenn ein historisch-theologisches Sachbuch nach wenigen Monaten bereits in der zweiten Auflage vorliegt, sind mehrere Gründe dafür möglich. Es mag die mediale Präsenz des Papsttums auch in einer postmodernen Gesellschaft sein. Der provozierende Titel „Der Unfehlbare“ mag ebenso ein Kaufanreiz sein wie die Person des Autors, der für einen packenden Schreibstil und skandalumwitterte Enthüllungen aus den kirchlichen Archiven bekannt ist. Wer den neuen „Wolf“ zur Hand nimmt, wird in diesen Hinsichten nicht enttäuscht.

Hubert Wolf will darlegen, dass es seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – konkret seit der Französischen Revolution und ihren Folgen – nicht nur zu einer Neuordnung der Kirchenorganisation kam, sondern sich auch die Begründung des Katholizismus veränderte. Unter kreativer Verarbeitung vieler eigener Studien weist Wolf nach, dass im 19. Jahrhundert unter falscher Berufung auf das Konzil von Trient kirchliche Traditionen neu erfunden wurden. Wolf nennt vor allem das Seminar als Ort der Priesterausbildung (gegen die Universitäten), das Bischofsbild des „Guten Hirten“ und die so genannte „tridentinische“ Messe. In diese politischen und theologischen Entwicklungen ordnet Wolf das Leben von Giovanni Maria Mastai Ferretti ein, der sich nach einigen Umwegen und nur oberflächlichen theologischen Studien zum Priester weihen ließ und aufgrund guter Beziehungen bereits mit 35 Jahren zum Bischof ernannt wurde, zunächst zum Erzbischof von Spoleto, dann zum Bischof von Imola und Kardinal.

54 Jahre war Mastai Ferretti, als er zum Nachfolger des reaktionären Gregors XVI. gewählt wurde. Dass er zunächst als Liberaler galt, ist für Wolf die „Geschichte eines Missverständnisses“ (153). Seine eigene Marienfrömmigkeit materialisierte Pius IX. in der 1854 durchgeführten Definition des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Marias, einer theologisch umstrittenen, nicht biblisch begründbaren Lehre. Aus der Tradition aber ließ sich das Dogma erschließen. Zehn Jahre später führten die Enzyklika „Quanta cura“ und der angehängte „Syllabus errorum“ sowie die zeitgleich erfolgenden Verurteilungen „liberaler“ Theologen und Philosophen das „ordentliche Lehramt“ als neuen Bezugspunkt für päpstliche Entscheidungen ein. Das Erste Vatikanische Konzil schließlich zementierte die Position des Papstes durch die Definitionen seiner Unfehlbarkeit in Glaubens- und Sittenfragen sowie seines Jurisdiktionsprimats. Dass die Bischöfe damit zu „Oberministranten“ des Papstes wurden, ist eine überspitzende, doch nicht von der Hand zu weisende Kennzeichnung. Dass sich seit Pius IX. die Form der Papstherrschaft veränderte, was sich auch in den Berichten über seine faszinierende Persönlichkeit zeigte, ist Inhalt des Schlusskapitels, in dem Wolf ausführlich auf die Schwierigkeiten des Seligsprechungsverfahrens eingeht.

Wolfs Biographie von Pius IX. geht bewusst nicht auf alle Details seines Lebens ein. Er konzentriert sich auf einige Schlüsselereignisse und ordnet sie in seine zu diskutierende These von der „Neuerfindung des Katholizismus“ im 19. Jahrhundert ein. Welche Rolle dabei enge Berater spielten, wie der zwielichtige Jesuit Joseph Kleutgen oder Kardinalstaatssekretär Antonelli, weist auf die bis heute zentrale Rolle der Kurienbehörden hin. Die Auswirkungen des Pontifikats Pius‘ IX. auf die heutige Ekklesiologie sind deshalb nicht nur Gegenstand kirchenhistorischer Forschung, sondern stellen auch massive Anfragen an die Systematische Theologie.

Auch bei diesem Buch zeigt sich aber ein zunehmend häufiger zu beobachtendes Problem. Um die Lesbarkeit zu erhöhen und den Lesefluss nicht abzulenken, werden die Anmerkungen in den Anhang verbannt. Bei 60 Seiten Anmerkungen wird damit die akribische Quellen- und Literaturarbeit des Verfassers fast wertlos.

Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert
Biografie

München: C.H. Beck Verlag. 2. Auflage 2020
431 Seiten m. s-w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-406-75575-0

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