Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Hubert Wolf: Krypta

Unterdrückte Traditionen der Kirchengeschichte

Wieder einmal legt der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf ein Buch vor, das eine kontroverse Aufnahme verspricht. „Krypta“ – damit ist das Untergeschoss der katholischen Kirche gemeint, das Verborgene und Vergessene; in der Krypta befinden sich die Gräber der Vorfahren, im übertragenen Sinn alles das, was die Kirche im Laufe der Jahrhunderte an Lebensmodellen „beerdigt“ hat.

Zehn Kapitel einer vergessenen Geschichte behandelt Hubert Wolf. Für einen Bischof, der heute vom Papst ernannt wird, galt über Jahrhunderte eine Wahl als konstitutiv, ganz abgesehen von den einseitigen und fragwürdigen Kriterien, die heute im Vorfeld einer Ernennung abgefragt werden. Jahrhundertelang enthielt der Ritus der Äbtissinnenweihe Elemente, die ihnen liturgische Funktionen zusprach. Seit dem Mittelalter gibt es Beispiele für umfassende Jurisdiktionsvollmachten. Dass der Bischof heute als absoluter Monarch seine Diözese regieren kann, ist ebenfalls eine neue Entwicklung; bis in das 20. Jahrhundert hinein galt das Domkapitel als Kontrollorgan des Bischofs. Das Gleiche gilt für den Papst, dessen Unfehlbarkeit und Primat erst durch das Erste Vatikanum festgestellt wurde, unter Ausblendung der Option einer Oberhoheit eines Konzils in Zweifelsfällen. Auch die Kardinäle wurden erst im 20. Jahrhundert entmachtet, zugunsten eines autokratischen Führungsstils des Papstes im Zusammenwirken mit dem Kardinalstaatssekretär. 

Die Überbetonung des Amtes in der Kirche relativiert Wolf durch einen Blick auf Martin von Tours, dessen Autorität in der Nachfolge Christi und der Askese und nicht in der Weihe wurzelte. Wolf plädiert für eine konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips auch innerhalb der Kirche, für den Primat der kleineren Einheit gegenüber den zentralen Verwaltungsstellen. Eine Aufwertung der „Laien“ lässt sich nach Wolf unter anderem aus den mittelalterlichen Eigenkirchen und dem Modell der Vereine gegenüber der Katholischen Aktion begründen. Wolf dekonstruiert das Konzil von Trient an den drei Mythen des Tridentinischen Seminars, des Bischofsideals und der tridentinischen Messe. In der Tradition der „Erfindung“ des Konzils von Trient im 19. Jahrhundert sieht er das Zweite Vatikanum. Welche Sprengkraft Utopien haben können, illustriert Wolf an den beiden Wegen des Franz von Assisi und des Petrus Waldes: „Eine charismatische Gemeinschaft wird verkirchlicht.“

Hubert Wolf hat keine neuen Entdeckungen zu bieten. Die vergessenen Traditionen finden sich in vielen Büchern und Aufsätzen, nicht zuletzt von ihm selbst. Aber in der Zusammenschau wirken sie deprimierend. Sie zeigen die Entwicklung der katholischen Kirche in einem anderen Licht. Wie würde das Gesicht der Kirche aussehen, wenn sich nur die Hälfte der unterdrückten Traditionen hätte durchsetzen können? Die Hoffnungen auf Reformen unter Papst Franziskus haben zumindest eines bereits bewirkt: Die – oft selbst auferlegten – Denk- und Sprachverbote sind überwunden. Es wird sich zeigen müssen, ob der Mut reicht, in den Reformprozessen der Bistümer und der Kurie Schritte zu gehen, die wirklich zukunftsträchtig sind, weil sich andere Strukturen in der Vergangenheit bewährt haben. Das historische Material liegt vor, nun sind Dogmatiker und Kirchenrechtler gefordert, den Bischöfen und dem Papst die theologischen Begründungen für wirkliche Reformen zu liefern. 

München: C.H. Beck Verlag. 2015
232 Seiten
19,95 €
ISBN 978-3-406-67547-8

 

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