Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ina ter Avest, Cok Bakker, Julia Ipgrave, Silke Leonhard, Peter Schreiner (Hg.): Facing the Unknown Future

Als Band 41 der Reihe „Religious Diversity and Education in Europe“ (Religiöse Vielfalt und Erziehung in Europa)ist 2020 die Studie „Facing the Unknown Future“ (Sich der unbekannten Zukunft stellen) erschienen. Die Schriftenreihe wird von der Forschergruppe ENRECA – dem „European Network for Religious Education in Europe through Contextual Approaches“ – herausgegeben, einem seit 1999 bestehenden europäischen Netzwerk von Forschern auf dem Gebiet der religiösen Erziehung. Damit in Zusammenhang steht ein Forschungsprojekt der Europäischen Union mit der Aufgabenstellung, religiöse Erziehung als Dialogbeitrag und Konfliktfaktor für Europäische Gesellschaften im Übergang zu untersuchen. Der Auftrag wurde 2006 erteilt, und 2014 erschien ein Abschlussbericht, der auf der Seite der Europäischen Kommission eingesehen werden kann.

Das Buch enthält 13 Aufsätze, die von 18 Autorinnen und Autoren gemeinsam erarbeitet wurden, gerahmt durch eine Einführung und einen Epilog. Die Zusammenarbeit wirkt sich dahingehend aus, dass als Bezugsrahmen aller Studien das Thema Zeit dient, die in vier für die Lernenden erlebbaren Perspektiven erörtert wird: (1) Zeit als Chronos, das ist die gemessene Zeit, die einerseits erfahrbar ist als zyklische Zeit in Stunden- und Jahresplänen und als lineare Zeit, die in Schulstufen gezählt wird. (2) Zeit als Kairos meint das Zusammenkommen verschiedener Faktoren zu einer „günstigen Gelegenheit“ (serendipity), die der Unterrichtende ergreift oder übersieht. (3) Zeit ist die Möglichkeitsbedingung von Hoffnung, die mit dem Wort educatio – „herausführen“ (in eine bessere Zukunft) schon ausgedrückt wird und die die Inhalte transzendiert. (4) Zeit ist die Dimension der Tradition, die sich in stets veränderlichen Kontexten als wandelbar erweisen und bewähren muss.

Die Londoner Religionsforscherin Julia Iprave stellt die Frage nach der Auswirkung der Zeit auf die Weitergabe religiösen Glaubens und religiöser Praxis. In Schülerbefragungen an 20 Schulen in allen Teilen Großbritanniens kam zutage, dass die Jugendlichen weniger ihre Eltern als Repräsentanten der religiösen Tradition wahrnehmen, sondern eher die Großeltern. Das Interesse an der Religion nimmt im Teenage-Alter ab, aber die jungen Menschen sind nicht unbedingt stolz darauf und halten spätere Rückkehr für möglich und eine Minderheit entwickelt eine reife Religiosität.

Carsten Gennerich, Religionspädagoge in Ludwigsburg, setzt in einer empirischen Untersuchung Zugänge Heranwachsender zu handlungsmotivierender Hoffnung in einer empirischen Studie mit ihrem Wertkonzept in Beziehung – ermittelt unter Anwendung der Wertetheorie von Shalom Schwartz –, um die Entwicklung pädagogischer Arrangements im Religionsunterricht theoretisch zu untermauern. Er zeigt, dass Hoffnung Religion nicht notwendig voraussetzt; dennoch fördern traditionelle Themen wie Gottvertrauen, unbedingte Würde der Person vor Gott, Umkehr und Versöhnung die Lebensbejahung durchaus.

In Europa leben viele Menschen in Ländern mit einer ihnen fremden religiösen Tradition. Religion hält die Verbindung mit ihrer Herkunft lebendig. Ömer Gürlesin, der an der Universität Leiden in den Bereichen Religionssoziologie und Religionspsychologie forscht, untersucht, wie seit der Regierungsübernahme der AKP in Ankara die Predigtvorlagen des türkischen Religionsministeriums sich verändert haben. Diese Predigtvorlagen wurden lange Zeit von der Islamstiftung der Niederlande weitergeleitet und von vielen Imamen in den Moscheen der Niederlande wörtlich verlesen. Gürlesin unterscheidet drei Phasen, die einander zeitlich überlappen: Begrüßung der Vielfältigkeit in der niederländischen Gesellschaft (2002-2014); Abwertung der Andersartigkeit der nichtislamischen Bevölkerung (2010-2019); Dämonisierung der anderen (2014-2019). Verstärkt wurde diese Entwicklung seit dem fehlgeschlagenen Putsch in der Türkei am 15.7.2016. Seit Anfang 2017 geriet das türkische Religionsministerium allerdings verstärkt in den Fokus kritischer Stimmen in den Niederlanden, vor allem wegen der Bespitzelungsvorwürfe. Daraufhin gründete die niederländische Islamstiftung eine eigene Arbeitsgruppe, die Predigtvorlagen erstellt und in türkischer und niederländischer Sprache verbreitet. Religiöse Tradition wurde also genutzt, um die Auslandstürken für die Politik der AKP einzuspannen, aber die niederländische islamische Community entwickelte Abwehrkräfte, um sich in den Niederlanden nicht zu isolieren.

Ina Ter Avest, emeritierte Religionspädagogin an der freien Universität Amsterdam, führte Interviews mit Frauen durch, die vor mehr als 40 Jahren von ihren Männern in die Niederlande nachgeholt wurden. An einem eindrucksvoll dargestellten Beispiel zeigt sie, wie familiäre und religiöse Hintergründe eine Frau dahin führen, die Bildungsmöglichkeiten in ihrer neuen Heimat für sich zu entdecken und zu ergreifen. Ter Avest spricht von kulturbezogenen Erzählungen, die das Leben lebenswert machen.

Silke Leonhard, Direktorin des religionspädagogischen Instituts Loccum, untersucht, welche Rolle religiöse Feiern in der Schule spielen können, um die Zeit als Chronos und Kairos für die Lernenden erlebbar zu machen. Die lineare Zeit wird markiert durch Anfangsfeiern, wenn Kinder in der Schule anfangen, und Abschlussfeiern, wenn junge Erwachsene ihre Zertifikate empfangen. Die zyklische Zeit wird erlebbar, wenn die religiösen Feste des Jahreskreises feierlich begangen werden. Die Zeit als Kairos fordert Religionslehrkräfte und Schulseelsorge heraus, wenn es gilt, auf Ereignisse angemessen zu reagieren, die die Schulgemeinde aufwühlen.

In einem Grundsatzartikel erörtert Peter Schreiner, Direktor des Comenius-Instituts, die Frage nach den Grundlagen einer interkonfessionellen Kooperation auf europäischer Ebene angesichts der sehr heterogenen Organisationsformen religiöser Erziehung in den einzelnen Ländern. Er greift dabei einen Ansatz auf, der in einer von Barbara Wintersgill, Erziehungswissenschaftlerin an den Universitäten Exeter und Warwick, herausgegebenen Publikation aus dem Jahre 2017entfaltet wird. Dabei werden vier interkonfessionell nachvollziehbare Fragen nach den Inhalten religiöser Erziehung (4 BIG QUESTIONS) formuliert und durch 6 BIG IDEAS auf einer abstrakten und interkonfessionell zugänglichen Ebene beantwortet: (1) Bleibendes, Wandel und Verschiedenheit, (2) Wörter und was sie sagen, (3) ein gutes Leben, (4) Sinn der Lebenserfahrung, (5) Einfluss, Gemeinschaft, Kultur und Macht sowie (5) ein Bild des Großen und Ganzen. Diese umfassenden Konzepte müssen für die konkrete religiöse Erziehungspraxis mit den Inhalten der Religionen und nicht-religiösen Lebenseinstellungen in einem regionalen Kontext gefüllt werden. Sie dienen dazu, eine Verständigung zwischen den vielen europäischen institutionellen Umwelten, in denen religiöse Erziehung organisiert wird, zu ermöglichen. Das von Barbara Wintersgill herausgegebene Buch „Big Ideas for Religious Education“ kann von der Homepage der Universität Exeter kostenlos als E-Book heruntergeladen werden.

Sieben weitere Aufsätze beinhalten Grundsatzüberlegungen zur Forschung über Religionserziehung, Einschätzungen junger Leute zur Zukunft der Religion, das Thema Lebensorientierung, Grundschüler im Dialog mit Bibelerzählungen, die Qualität der Verletzlichkeit, Ethik als Konkurrenz und Thema des Religionsunterrichtes, den Bildungsbegriff in der Nachfolge von Hannah Arendt.

Das Buch hat mir einen Zugang verschafft zu Akteuren und Institutionen in der Religionspädagogik, die mir bislang in Aus- und Fortbildung nicht begegnet sind. Nicht alle Perspektiven und Denkanstöße aus den einzelnen Aufsätzen sind gleich innovativ und hilfreich – wie soll es anders sein? Doch beeindruckt, dass sich die meisten Autoren an dem durch Vor- und Nachwort beschriebenen thematischen Rahmen orientieren und so ein organisches Ganzes entstanden ist, vergleichbar einer Pflanze, die ihre Wurzeln in unterschiedliche Bereiche des Bodens austreibt.

New York: Waxmann Verlag. 2020
280 Seiten (englisch)
39,90 €
ISBN 978-3-8309-9076-5

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