Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Ivan Ivanji: Hineni. Roman

„Hineni“ lautet der Titel des Abraham-Romans von Ivan Ivanji. Das aus dem Hebräischen übersetzte „Hier bin ich“ ist nach biblischer Überlieferung die Antwort des Ahnvaters auf den Anruf Gottes und Beginn eines langen, intensiven Dialogs. In Ivanjis Roman ist das „Hier bin ich“ weniger Antwort als verzweifelte Selbstvergewisserung eines den nächtlichen Sternenhimmel betrachtenden Ratlosen. Der Autor lässt aus dem Mund Avrams, wie er den Ahnvater alttestamentlich nennt, dessen Lebensgeschichte als Konstruktion seines Selbstentwurfs erzählen. Gott bleibt für Avram ein Schweigender, ein Unergründlicher. Vielleicht ist dies den eigenen Erfahrungen des 1929 geborenen jüdischen Autors, einem Überlebenden der Shoa, geschuldet.

Der Anlass, diesen Roman zu schreiben, war für Ivanji ein Erlebnis, das er, als berichtender Zeitzeuge nationalsozialistischer Judenverfolgung, in einer Berufsschulklasse hatte. Im Nachwort schildert der Autor seine Begegnung mit einem in Deutschland lebenden palästinensischen Jugendlichen, der ihn wütend mit dem seit Generationen währenden blutigen Nahost-Konflikt um das Land Israel konfrontierte. Ivanji versucht, aufgewühlt durch diese Schülerbegegnung, Avram als gemeinsamen Stammvater von Juden, Muslimen und Christen für heutige Leserschaft ohne biblische Patina vorzustellen.

Daher beginnt der Roman in Abweichung zur Bibel nicht mit der Avram-Erzählung, sondern mit der Selbstvorstellung Hagars. Die fiktiven Textbausteine der Hagar-Schilderung gründen auf fundierten historischen Recherchen des Autors zum Leben im alten Ägypten, seiner Götterwelt und seiner Dynastien. Auf Spurensuche nach dem realgeschichtlich nicht zu fassenden Avram und der Tatsache, dass sich der biblisch erwähnte Pharao Abimelech nicht in den ägyptischen Chroniken findet, datiert Ivanji den Ahnvater in die Zeit Amenemhet I. In seinem Nachwort äußert der Autor, dass er sich nicht alleine auf die Bibel verlassen habe, denn seine Intention sei es gewesen, die Geschichte der Erzeltern so real wie möglich zu erzählen.

Das Resultat historisierender Betrachtungen und psychologisierender Figurendarstellungen ist aber, dass der Aspekt der göttlichen Offenbarung im Leben des Ahnvaters und seiner Frauen auf der Strecke bleibt. So werden im Unterschied zur Bibel die Ahnmütter neben Avram nicht zu eigenständigen Adressatinnen direkter Gottesrede. Hagar widerfährt bei ihrer Vertreibung in die Wüste keine Engelsbegegnung; nicht ein Engel, sondern Esam, der Knecht Avrams, geht ihr in die Wüste nach und sichert ihr Überleben und das ihres Sohnes Ismael. Auch Sarais Lachen wird nicht als Reaktion auf eine unverhoffte Gotteszusage beschrieben; ihr Lachen ist lediglich Ausdruck eines allzu späten, von Nachwuchsplänen unbelasteten Liebesglücks mit Avram und einer darauf wider Erwarten eintretenden Schwangerschaft. Sogar der Opfergang des Ahnvaters, der wegen des knappen Erzählstils in der Bibel an Dramatik kaum zu überbieten ist, verblasst aufgrund erklärender Schilderung Ivanjis. Der Autor schreibt Abrahams Vorhaben, den Sohn zu opfern, kanaanäischen Einflüssen des Baal-Kultes zu, bei dem auch Kinderopfer praktiziert wurden. Um im unüberbietbaren Gegenentwurf zum Fruchtbarkeitsgott Baal seinen Gott Zebaot als den Herrscher aller Heerscharen aufzustellen, der unbedingten Gehorsam fordert, lässt Ivanji Abraham bei den Mitbewohnern Kanaans die Geschichte seines geplanten Opfergangs in Umlauf bringen. Somit wird der Ahnvater zum Begründer des Mythos vom bildlosen, einzigen Gott und dessen Opferkult, der Menschenopfer verweigert. Die Bereitstellung des Widders, der dann anstelle Isaaks auf dem Altar liegt, geschieht nach Ivanji durch Vorsorge desselben Knechtes Esam, der auch Ismael und Hagar in der Wüste vor dem Tod bewahrte. Die biblisch überlieferte Unmittelbarkeit der dramatischen Gott-Abraham-Beziehung geht verloren, da die Szene der Opferung aus der naiven Sichtweise des Knaben Isaak erzählt wird. Dass Abrahm zwar Empfänger von Gottes Gaben ist, über diese, selbst wenn sie ihm zu eigen werden, doch keinen Besitzanspruch erheben kann, wird in der biblisch tradierten Übereignung Isaaks an Gott deutlich.

Auch das vom Ahnvater besiedelte Land als Leihgabe Gottes findet sich so nicht in Ivanjis Roman. Der Autor lässt Avram nach dessen Aufenthalt in Ägypten Kanaan mit militärischem Beistand von Amenemhet einnehmen. Der Ahnvater wird zum politischen Werkzeug des Pharao, um als dessen Verbündeter Ägyptens Herrschaftsbereich nach Norden hin zu sichern. Insbesondere mit Blick auf die Frage des palästinensischen Jugendlichen: Warum raubt ihr Juden unser Land? wäre in Anlehnung an die biblische Erzählvorlage hervorzuheben, dass nicht einmal der Ahnvater, sondern allein Gott der eigentliche Landbesitzer ist, für alle Zeiten bleibt und dieses Land den gemeinsamen Nachkommen Abrahams als Leihgabe überlässt.

Die abschließende Frage, warum „Hineni“ von Ivan Ivanji dennoch lesenswert sein könnte, lässt sich bei aller Kritik beantworten. Der Roman lädt zum kritischen Vergleich mit dem biblischen Text ein, der das Mysterium der Gotteserfahrung in literarischer Brillanz mit knappen Sätzen zur Sprache bringt; Auslassungen, nicht Gesagtes in der Bibel verweisen auf das Numinose, das Geheimnis göttlicher Offenbarung, das Menschen seit den Zeiten der Erzeltern aus erschrockener Betroffenheit zum Glauben trotz aller Zweifel ermutigt. 

Wien: Picus Verlag. 2020
216 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-7117-2093-1

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