Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jan Assmann: Das Oratorium Israel in Egypt von Georg Friedrich Händel

Während der evangelische Theologe Notger Slenczka im vergangenen Jahr den Vorschlag geäußert hat, das Alte Testament aus dem biblischen Kanon zu entfernen, zeigt der Ägyptologe Jan Assmann in immer neuen Anläufen, welch breite Wirkungsgeschichte der alttestamentliche Exodusmythos nicht nur religions-, sondern auch kultur- und individualgeschichtlich entfaltet hat. In seinem großen Werk „Exodus“ (vgl. Eulenfisch 15, 119–123) hat er dies u.a. an Arnold Schönberg, Sigmund Freud und Thomas Mann verdeutlicht, für die jeweils der Blick auf Israel in Ägypten ein identitätsbildendes Schema bereitstellte, um ihre Situation im politischen Exil zu verarbeiten. Dieser gedächtnisgeschichtliche Zugang zum Exodusmythos ist als solcher weniger von dem Wunsch geleitet, historisch zu klären, was es mit dem Auszug aus Ägypten auf sich hat. Denn selbst dann, wenn es sich beim Exodus nicht um eine historische Tatsache, sondern lediglich um eine nachträgliche Konstruktion handelt, kann doch die Erinnerung an ein solches Konstrukt ihrerseits geschichtlich wirksam sein und historische Tatsachen schaffen. Letzteres lässt sich nicht nur an den genannten Exilanten des 20. Jahrhunderts beobachten, für die der Exodusmythos jeweils ein Krisenbewältigungsmuster bereitstellte. Im vorliegenden Werk über Händels Oratorium „Israel in Egypt“ zeigt Assmann darüber hinaus, wie das Exodusmotiv auf spezifische Weise nicht nur Händels Leben, sondern auch die Entstehung, die Gestalt und das Schicksal seines Oratoriums prägte.

In einer ersten Hinsicht begegnet dieses Motiv schon dort, wo Händel im Jahr 1710 nach London übersiedelte und von dort nicht mehr endgültig in seine Heimat zurückkehrte. In einer zweiten Hinsicht zeigt sich besagtes Motiv in der Entstehung des genannten Oratoriums. Denn Händel begann dessen Komposition zu einem Zeitpunkt, als er von einer Lähmung des rechten Arms – vermutlich infolge eines Schlaganfalls – wieder genesen war und mit der Fertigstellung seines ersten Oratoriums „Saul“ innerlich das Scheitern eines Opernprojektes verarbeitet hatte. In diesem Sinne stellt Assmann eine Analogie zu demjenigen Danklied her, das Mose nach dem gelungenen Durchzug durch das Schilfmeer anstimmt, wenn er die Komposition von „Israel in Egypt“ aus einem „Gefühl des Glücks und der Dankbarkeit“ geboren sieht.

Daraus ergibt sich eine dritte Berührung mit dem Exodusmotiv. Weil es sich hier um keine Auftragsarbeit handelte und in dieser Hinsicht auch keine Nachfrage vorlag, soll die Uraufführung im Jahr 1739 vor höchstens 20 Zuhörern stattgefunden haben. 200 Jahre später hat „gerade dieses Stück in den Massenaufführungen des 19. Jahrhunderts einen Spitzenplatz als nationales Denkmal“ gefunden. Dass es gerade in England zu dieser zeitversetzten Rezeption kommen konnte, macht Assmann wiederum an der gedächtnisgeschichtlichen Wirksamkeit deutlich, die der Exodusmythos nur dort entfalten konnte. Dieser habe nämlich zunächst in der anglikanischen Nationalkirche und schließlich im englischen Puritanismus einen ganz eigenen Resonanzraum für die Botschaft dieses Oratoriums geschaffen. Damit ist zugleich eine vierte Wirksamkeit des Exodusgedankens angesprochen. Denn Assmann zeigt, wie die politische Idee einer Rechtsverfassung, die das Volk Israel im Bundesschluss am Sinai empfing, gerade in England zum Vorbild eines „freien, nur Gott verantwortlichen Volkes“ werden konnte.

Ein nicht geringer Teil des vorliegenden Werkes stellt eine musikwissenschaftliche Kommentierung des Oratoriums dar, die u.a. durch viele Notenbeispiele zeigt, wie Händel einzelne Momente der Exoduserzählung in Musik umsetzt. Dies angemessen zu würdigen setzt einen musikwissenschaftlich kompetenteren Rezensenten voraus, den Jan Assmann in Paul Ingendaay gefunden hat, der in der F.A.Z. vom 16.1.2016 zeigt, wie „exzellent“ der Leser hier durch Händels Oratorium geführt wird. Aus theologischer Sicht bleibt festzuhalten, wie beeindruckend hier jemand, der dem Exodusmythos und seinem „Monotheismus der Treue“ sehr kritisch gegenübersteht, dessen Wirkungsgeschichte in Kultur, Geschichte und Politik nachweist. So lässt sich gerade an der gedächtnisgeschichtlichen Wirkung des Exodusmythos ablesen, wie geboten die Behandlung eines alttestamentlichen Textes im Religionsunterricht sein kann, wenn man kulturelle und politische Phänomene in Geschichte und Gegenwart verstehen will.

 

bibel & musik

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk. 2015

303 Seiten m. Abb.

22,00 €

ISBN 978-3-460-08604-4

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