Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jan-Heiner Tück / Tobias Mayer (Hg.):Nah – und schwer zu fassen

Im Zwischenraum von Literatur und Religion

Der Wiener Germanist und Theologieprofessor Jan-Heiner Tück hat im Jahre 2016 nach dem Vorbild anderer Poetikdozenturen eine spezifische Poetikdozentur ins Leben gerufen, die sich dem Verhältnis von „Literatur und Religion“ widmen soll. Im Rahmen der Poetik, der Lehre vom Schreiben, geht es den Herausgebern vor allem darum, Einblicke in die Werkstatt von einzelnen Autorinnen und Autoren zu erhalten. Denn Poetikdozenturen sind der Ort, an dem Schriftsteller in ein reflexives Verhältnis zu ihrem Schreiben treten. Der Dichter wird zum Dozenten, um einem interessierten Publikum darzulegen, was ihn zum Schreiben anstachelt, welche Motive ihn bestimmen, welche Quellen und biographischen Erfahrungen in seine Texte einfließen, welchen Traditionslinien er folgt und wie er sich selbst im Panorama der Gegenwartsliteratur verortet.

Mit solchen Überlegungen rechtfertigt Jan-Heiner Tück in einem Eingangsessay sein Vorhaben: Er möchte zeitgenössischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern ein Forum geben, darüber zu sprechen, in welcher Weise Religion für ihr Schreiben bedeutsam geworden ist. Dabei ist er sich bewusst, dass der Brückenschlag zwischen Theologie und Literatur kein einfacher ist. Denn bis in die frühe Neuzeit und darüber hinaus bis zur Abschaffung des Index librorum prohibitorum im Zuge des Zweiten Vatikanums traten Kirche und Theologie allzu oft als Lehr – und Zuchtmeister der Literatur auf, Vormünder, denen sich die Literatur vor allem seit der Aufklärung in Trotz und Polemik entzog.

Dennoch lassen sich aus heutiger Sicht Konvergenzen aufzeigen. Beide, Religion und Literatur, werfen anthropologische Fragen mit Tiefendimension auf, indem sie Themen wie Liebe, Trauer, Schuld und Tod auf die Tagesordnung setzen. Literatur hebt vergangene Lebenswelten – auch religiöse – neu ins Bewusstsein und spinnt damit den Erinnerungs- und Erzählfaden zwischen den Generationen fort, stimuliert die Phantasie gegen die Macht des Faktischen und entwickelt ein Sensorium für gesellschaftliche Erschütterungen und Verschiebungen, für Krisen und Brüche, das auch für Theologen inspirierend sein kann.

Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen haben im Sommersemester 2016 und im Wintersemester 2016/17 Sibylle Lewitscharoff, Thomas Hürlimann, Nora Gomringer, Alois Brandstätter, Christian Lehnert und Felicitas Hoppe Vorlesungen über religiöse Einflüsse und Motive in ihrem Werk gehalten, die mit kurzen Einführungen von Tobias Mayer versehen in der vorliegenden Veröffentlichung einem größeren Leserkreis zugänglich gemacht werden. Naturgemäß fallen die einzelnen Beiträge sehr unterschiedlich aus, weil sie aus einer persönlichen Perspektive berichten und die ästhetischen Positionen ihrer Verfasser spiegeln. Teils haben sie stark autobiografischen Charakter (Hürlimann) oder geben Einblick in die gegenwärtige Arbeit (Lewitscharoff: Dante-Roman); teils zeugen sie vom Ringen des Dichters mit der Sprache (Lehnert, Gomringer, Hoppe) oder sind mehr literaturwissenschaftlich (Brandstätter) angelegt.

Mit Gewinn wird die vorliegende Veröffentlichung derjenige lesen, dem die sprachliche Formulierung von Transzendenzerfahrungen zum Problem geworden ist und der auch schwierigeren ästhetischen Gedankengängen zu folgen bereit ist.

Poetikdozentur Literatur und Religion Bd.1
Freiburg: Herder Verlag. 2017
200 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-451-37886-7

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