Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jochen Hörisch: Hände. Eine Kulturgeschichte

„Wer nicht handelt, wird behandelt.“ Handel ist keineswegs nur eine Kategorie der Wirtschaft, und erst recht führen die Händel oder die sprichwörtlichen Handgreiflichkeiten in eine andere Welt. Bei Licht besehen ist also das Körperorgan „Hand“ weit mehr als eine raffinierte Vorrichtung zum Greifen. Haptisch geht es im Leben überhaupt zu, und Be-Greifen ist alles. Wer sich, mit Hilfe dieses Buches erst recht, erst einmal auf die Suche macht, in Alltagsleben und Sprachgebrauch die Bedeutung der Hände zu erkunden, wird überraschende Entdeckungen machen: Wer denkt schon bei Manieren oder Manager an die Programmatik ihrer sprachlichen Herkunft? Wer assoziiert mit Emanzipation das Faktum, dass wir Menschen erst einmal in die Hände anderer geraten, bevor wir unser Leben hoffentlich selbst in die Hand nehmen lernen? Und dass alles, was vorhanden ist, der Wahrnehmung und Bearbeitung bedarf – und das keineswegs nur chirurgisch – ist nicht von der Hand zu weisen. Genug der einführenden Wortspielereien – für einen assoziationsstarken Kulturalisten wie Jochen Hörisch ist jedenfalls ein reichhaltiges Metaphernfeld gefunden, das zum Vermessen förmlich einlädt und bis zu den berühmten Letztfragen führt. Warum denn sonst die spirituelle Handauflegung und das Reden vom Handeln Gottes?

Keine Frage: „Menschenhände haben plastische und autoplastische Fähigkeiten“ (97), man kann sogar mit ihnen reden. „Bis heute ist es nicht möglich, die Hände von Robotern mit einer Geschicklichkeit und Empfindungsfähigkeit auszustatten, die der menschlichen Hand auch nur entfernt entspricht.“(107) Drei reichhaltige Kapitel sind es, in denen der ungemein belesene Kultur- und Medienwissenschaftler das riesige Gelände abschreitet. Zuerst geht es um „die Phänomenologie der Hand“, angefangen natürlich beim Physiologischen bis hin zum praktischen und kommunikativen Vermögen. Unter der Überschrift „Von der Hand Gottes zur unsichtbaren Hand des Marktes“ steht zweitens die (heils-) ökonomische Metaphorik im Vordergrund, sei es in ausdrücklich theologischer Gestalt oder in der säkularen Logik einer sich selbst organisierenden Wirtschaft. Im dritten Abschnitt „Die öffentliche und die private Hand“ geht es um jene gesellschaftlichen Differenzierungen, die die Signatur der Noch- und Nachmoderne ausmachen.

Der durchaus unterhaltsame Reiz der gelehrten Abhandlung ergibt sich nicht nur aus dem Facettenreichtum der Darstellung und der flüssigen Sprache. Es sind vor allem die vielen Abbildungen – nicht nur Dürers Hände! – und die reichhaltigen Zitate aus Dichtung und Literatur, die die Lektüre zur Fundgrube machen und zu weiteren Spiegelungen des Themas förmlich einladen (allein 30 Seiten Literatur und Anmerkungen). Der gelernte Germanist breitet die Schätze seines offenkundig prall gefüllten Zettelkastens und Zitatenspeichers aus; das kunstfertige Assoziieren und Vernetzen unterschiedlicher Informationsprovinzen und Sinngegenden war schon immer ein Markenzeichen des bekannten Medienforschers (immer noch lesenswert z.B. Brot und Wein. Die Poesie des Abendmahls, Frankfurt 1992). Besonders die Werke von Goethe und Thomas Mann, auch Heinrich Heine, werden hier bis in Details herangezogen und offenbaren in der Tat eine erstaunliche Sensibilität für das Leitmotiv. Denker wie der junge Martin Heidegger dürfen nicht fehlen: „Zuhanden sein kann nur, was vorhanden ist.“ (73f) Eingestreut in die sprühende Komparatistik des Fließtextes sind meisterliche Kurzexkurse, z.B. zur Fiktionalität (in) der Literatur (74) – von der Fülle oft entlegener Zitate ganz zu schweigen. Kurzum: ein Lese- und Lernvergnügen im besten Sinn bildungsbürgerlicher Prägung und intellektueller Lust mit hohem Informationsgehalt.

„In deine gütigen Hände empfehle ich meinen Geist“. Ganz selbstverständlich ruft der Pfarrerssohn Hörisch biblische und christliche Metaphorik in Erinnerung (189f). Jeder Blick in eine biblische Konkordanz zeigt schnell den zentralen Stellenwert für die metaphorische Rede von Gott, und in der klassischen Ikonografie ist die segnende Hand, gern aus dem Regenbogen der himmlischen Welt, Inbild für den nah-fernen Gott und seine Führung auf Erden. In theologischer Perspektive freilich wünschte man sich, Hörisch hätte hier genauso sorgfältig und textgenau interpretiert wie bei den Texten von Goethe oder Thomas Mann. Es bleibt etwas leichtfüßig bei kurzen Zitaten ohne differenzierenden Kontext und hermeneutische Vermittlung. Immerhin rückt die theologisch zentrale Frage, ob und wie von einem Handeln Gottes in der Welt noch gesprochen werden könne, von der Sache her im zweiten Kapitel in den Vordergrund.

Dass Hörisch derart vielfarbig die übliche „Handvergessenheit“ (61, 73, 111) aufhebt, ist jedenfalls ebenso spannend wie anregend. Etwas anscheinend Selbstverständliches derart als nicht-selbstverständlich in den Blick zu nehmen, hat ja mit dem Wesen von Spiritualität zu tun und mit dem Sinn auch des Religionsunterrichtes. Es lohnt sich, dieses Buch in die Hand zu nehmen.

München: Carl Hanser Verlag. 2021
304 Seiten m. s-w Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-446-26774-9

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