Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jochen Sautermeister (Hg.): Kirche – nur eine Moralagentur?

Eines gleich vorweg: Das hier zu rezensierende Buch kann als Urlaubslektüre niemandem mit gutem Gewissen empfohlen werden! Und das hat nicht einmal etwas mit dem durchaus relevanten Thema des 158 Seiten zählenden Bändchens zu tun. Im Gegenteil: Der Titel weckt größere Erwartungen, als sein Inhalt zu erfüllen in der Lage ist. Letzteres liegt weniger an den durchaus namhaften Autoren als an einer gewissen – mit Verlaub – herausgeberischen Naivität: Wer kaum ein Jahr, nachdem die MHG-Studie die moralische Glaubwürdigkeit der Kirche geradezu annihiliert hat, glaubt, auf die kirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen mit einem rein innerakademischen Diskurs reagieren zu können, hat wenig von den realen Spielräumen kirchlicher Selbstbehauptung in einem pluralistischen Lebenskontext verstanden – der Elfenbeinturm lässt grüßen!

Jedenfalls dürfte jener besagte Diskurs seinerseits mindestens so „realitäts- und ambiguitätsblind“ sein, wie es Magnus Striet in seinem Beitrag „Jenseits von Heteronomie – oder: Kirche als Glaubensagentur“ öffentlichen kirchlichen Stellungnahmen vorwirft. Er bezieht sich damit auf eine von dem Berliner Philosophen Hans Joas angestoßene Debatte über Vernunft oder Unvernunft der Öffnung der Grenzen im Jahr 2015 (Kirche als Moralagentur, München: Kösel, 2016). Darin nimmt er die vorschnelle Positionierung der Kirchen „pro-Asyl“ zum Ausgangspunkt seiner Forderung nach einer „neuen sozialwissenschaftlichen und theologischen Reflexion auf die Bedeutung von Kirche“. Um welche Kirche es sich dabei soziologisch und theologisch handeln soll, bleibt offen, Joas belässt es (für sich) bei einem schwärmerischen Kirchenbild, das Kirche als „institutionelle Gestalt eines universalistischen [Liebes-] Ideals“ beschreibt. Religion und Moral gelten Joas als Gegenbegriffe; ein allzu moralisierendes Auftreten der Kirche verdecke ihr missionarisches Potential; ethische Verpflichtungen ergeben sich aus Beziehungen und nicht umgekehrt …

Im Grunde können die hier zusammengetragenen Aufsätze als der wiederkehrende Versuch verstanden werden, dieses Joas’sche Apodiktum zu widerlegen. Dies gelingt unterschiedlich gut, was auch dem Umstand geschuldet sein mag, dass der Herausgeber sich offenbar einem gewissen konfessionellen Proporz verpflichtet sah: Zwei protestantischen (Peter Dabrock, Ulrich Körtner) stehen zwei katholische Aufsätze (Eberhard Schockenhoff, Magnus Striet) gegenüber, diplomatisch flankiert von einer unverdächtigen politischen Stimme (Annette Schavan). Vieles liest sich politisch korrekt, etwa wenn ein um’s andere Mal das Weizäcker’sche Bonmot „Nicht Politik machen, Politik möglich machen“ bemüht wird. Der eigentliche Wert des Bändchens dürfte wohl darin liegen, dass die Beiträger – indem sie auf die Titelfrage antworten – sich selbst einen Spiegel vorhalten, und – gewollt oder nicht – aus dieser Betrachtung quasi eine Quintessenz ihres eigenen Denkens hervorfließt. Wer also die Freude hatte, bei einem der Herren zu studieren, mag sich über das Rencontre freuen. Am ungelösten Grundproblem: dem jeweils eigenen Kirchenbild als Maßstab einer normativen Ekklesiologie, ändert dies freilich nichts.

Am erhellendsten darf noch der Beitrag von Eberhard Schockenhoff angesehen werden, der eine nähere Betrachtung verdient und sich im Übrigen durchaus auch für den Oberstufenunterricht eignet: In der für ihn bekannten sprachlichen Prägnanz und Brillanz beleuchtet Schockenhoff wichtige hermeneutische Rahmenbedingungen einer zeitgemäßen katholischen Moraltheologie: Politisch-ethische Diskurse sind für ihn „Rationalitätsdiskurse“, die sich an Maßstäben wie Gerechtigkeit, Klugheit, Verantwortung, Folgenabwägung, Humanität und Solidarität orientieren. Diese Begriffe treten keineswegs – wie Joas es suggeriert hatte – mit einem letztgültigen Überlegenheitsanspruch auf, sondern sie sind durchaus deutungsoffen für konkrete gesellschaftliche und historische Situationen. Zugleich treten sie nicht inhaltsleer in diese Situation ein, sondern bringen hier explizit biblisch-christliche Konnotationen mit. Diesen Sinngehalt macht Schockenhoff an der Reich-Gottes-Botschaft Jesu fest, die einen geradezu „lebensförderlichen Begriff von Moral“ transportiere, welcher sich an den „Ecksteinen“ der Bergpredigt festmachen lässt: die Umwertung der Werte, die „größere“ Gerechtigkeit der Antithesen, ein Leben aus der Gotteskindschaft etc. Als „Offenbarung der menschgewordenen Liebe Gottes“ werde der christliche Glaube zu einem neuen Vorzeichen für die Moral. Schockenhoff spricht deshalb auch von einem „integrativen“ Modell der beiden Begriffe: Religion und Moral stünden in einem dialogischen, geradezu performativen Verhältnis, Vorgabe und Aufgabe entsprechen sich. Für die Kirche bedeute dies, dass sie das „liebende Handeln Gottes“ in der Welt sichtbar zu machen hat, und dies in Wort und Tat! Schockenhoff versteht seinen Beitrag folgerichtig als „Appell für eine           Kirche, die sich einmischt“. Diesem frommen Wunsch bleibt die Joas’sche These vom Missverhältnis zwischen öffentlicher Rolle der Kirche und ihrer tatsächlichen Stärke entgegenzuhalten – womit sich die Katze in den Schwanz beißt!

Wenn Sie nun wissen wollen, ob Sie sich das Buch kaufen sollten? Mein Rat: Kopieren Sie für sich die Seiten 57-80 und gehen Sie von dem Ersparten mit Ihren Kindern ein Eis essen!

Eine Selbstverortung
Freiburg: Herder Verlag. 2019
158 Seiten
18,00 €
ISBN 978-3-451-38321-2

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