Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

John Barton: Die Geschichte der Bibel

Einen Rettungsring wirft der in Oxford tätig gewesene Professor für Bibelforschung John Barton den „nur allzu leicht“ Ertrinkenden im „Meer der Theorien über (…) Ursprünge, (…) Bedeutung und (…) Stellenwert“ (16f) der Bibel zu. Der „allgemein interessierte(...) Leser“ (17) findet in diesem umfangreichen Werk eine aus dem Englischen übersetzte, gut verständliche Zusammenschau des aktuellen Forschungsstandes.

Spannend ist das Buch aber nicht nur für exegetische Insider, sondern insbesondere für diejenigen, die sich für die Wechselwirkung zwischen Bibel und Religion, also für biblische Hermeneutik, interessieren. Denn Barton diskutiert auf der Metaebene jene (nicht erst) gegenwartsrelevanten Fragen nach der ‚Wahrheit‘, der ‚Relevanz‘, der ‚Tiefsinnigkeit‘, der ‚Widerspruchsfreiheit‘ und der ‚Kongruenz‘ der Bibel. Im Fokus stehen dabei nicht nur christliche und jüdische Lesarten, sondern vor allem Praktiken, während islamische Beziehungen zur Bibel leider nur dann gestreift werden, wenn sie die beiden erstgenannten berühren. Dies gilt auch für Lesarten ‚gegen den Strich‘ (z.B. feministische, postkolonialistische, popkulturelle o.a. Auslegungen), wobei dem Autor zu Gute gehalten werden muss, dass – wie bei jedem ambitionierten Projekt einer Gesamtdarstellung – notwendig nie die ganze Geschichte erzählt werden kann.

In vier chronologisch angeordneten Teilen („Das Alte Testament“, „Das Neue Testament“, „Die Bibel und ihre Texte“, „Der Sinn der Bibel“) gelingt eine Orientierung über die Geschichte biblischer Texte. Unter der Bedingung, dass es sich – auch bei der vorliegenden Darstellung – um exegetische und historische Rekonstruktionen handelt, wird ein Zeitraum von rund 2800 Jahren Texthistorie – von der Antike bis in die Moderne – dargestellt und diskutiert. Im Stil erzählender Erklärung werden aber auch die wichtigsten Quellen selbst ungekürzt ins Gespräch mit der Leserschaft gebracht, die sich ihr eigenes Urteil bilden soll. Denn der britische Exeget kann zwar durchaus seine Thesen vertreten, bleibt dabei aber überwiegend diplomatisch. Das wird z.B. bei der Gegenüberstellung der im angloamerikanischen und deutschsprachigen Raum kontrovers diskutierten, literarkritischen Thesen zur Genese des Pentateuchs oder der Synoptiker deutlich.

Zu eben diesen beiden Fragestellungen wäre auch – was der auf Wissenschaftskommunikation bedachten Aufmachung dieses Buches natürlich zuwiderläuft – eine graphische Darstellung hilfreich gewesen, sinnvoller jedenfalls als die vier (wie immer bloß angehängt wirkenden) Karten zur biblischen Geographie. Benutzerfreundlich dagegen erweisen sich die vielfachen Vor- und Rückverweise auf nahestehende Fragestellungen in anderen Kapiteln, die exemplarisch ausgewählten Abbildungen (zu Textfragmenten, Kodices, Buchmalerei, Glossen, etc.), die weiterführende Bibliographie, die übersichtlichen Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln, sowie das Bibelstellen-, Orts-, Personen- und Sachregister.

Sensibilisierend für die Frage nach der Autorität ‚heiliger‘ Schriften ist vor allem Bartons Blick auf das Gestalt-Werden der Bibel zum ‚Buch der Bücher‘, also die Frage der Kanonisierung. Die ausgesprochene Expertise des Autors auf diesem Gebiet kommt den Lesenden hier insofern zugute, als dass sie eine Argumentation an die Hand gibt, die sich sowohl gegen (pop)kulturelle Verschwörungstheorien à la Dan Brown als auch fundamentalistische Lesarten, welche die ‚Wahrheit‘ der Texte für sich reklamieren, einsetzen lässt: Statt den späten „Belegen für offizielle Entscheidungen über den Kanon viel zu viel Gewicht“ (329) beizumessen, zeigt Barton einerseits überzeugend auf, dass bereits gegen Ende des 2. Jahrhunderts ein „anerkannter Kern und drumherum ein Halbschatten anderer Schriften“ (329) in Gebrauch ist, deren Autorisierung (bzw. Nichtautorisierung) als ‚apostolisch‘ und ‚orthodox‘ erst nachträglich gerechtfertigt wurde. Andererseits bedeute eine solche Klassifizierung als ‚orthodox‘ nicht auch notwendig, dass es sich um einen im historiographischen Sinne ‚wahren‘ Sachgehalt handelt: „Ein Text könnte sehr früh entstanden und allgemein als verbindlich anerkannt sein, dennoch aber Ungenauigkeiten, ja fast ausschließlich erfundene Elemente enthalten“ (354) – wie z.B. die lukanische Geburtserzählung.

Die für einen Exegeten typische Haltung, biblischen Quellen keine Gewalt antun zu wollen (vgl. 616), sie also von ihren Interpretationen (zumindest) zu unterscheiden, scheint besonders in Teil IV (‚Der Sinn der Bibel‘) auf. Barton strebt hier danach, „die Bibel aus der Kontrolle religiöser Autoritäten zu befreien“ (612), indem er wiederkehrende (exemplifiziert an Paulus, den Rabbinen, den Kirchenvätern, den mittelalterlichen Kommentatoren, Luther und den Reformatoren, den Aufklärern und nicht zuletzt den modernen Bibelforschenden) Schemata und Modi der Bibelinterpretation aufdeckt. Das könnte auch ein Anspruch für seine eigene Leserschaft sein. Fazit: Lesenswert!

Von den Ursprüngen bis in die Gegenwart
Aus dem Englischen übersetzt von Jens Hagestedt und Karin Schuler
Stuttgart: Klett-Cotta Verlag. 2020
717 Seiten m. s-w Abb.
38,00 €
ISBN 978-3-608-94919-3

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