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John Ironmonger: Der Wal und das Ende der Welt. Roman

„Homo homini lupus“, „Der Mensch ist des Menschen Wolf“. Dieser Satz, der ursprünglich vom römischen Dichter Plautus (ca. 254-184 v. Chr.) stammt, ist für den englischen Philosophen Thomes Hobbes (1588-1679) die wichtigste anthropologische Konstante. Im rohen Naturzustand ist jeder Mensch ein gewalttätiges, triebgesteuertes, egoistisches und gieriges Wesen, so dass jeder gegen jeden kämpft. Nur durch einen starken Staat, der das Gewaltmonopol hat, werden die Menschen gezähmt, damit sie nicht wieder in ihr mörderisches Verhalten zurückfallen. Der Staat wird dabei für Hobbes zum Leviathan, zum sterblichen Gott, der dafür sorgt, dass Frieden und Ordnung eingehalten werden. Stirbt der Leviathan oder wird er schwach, fallen für Hobbes die Menschen wieder in den alten Naturzustand zurück.

Diese These des englischen Philosophen spielt in dem Roman „Der Wal und das Ende der Welt“ von John Ironmonger eine prominente Rolle. Der Autor erzählt die Geschichte von Joe (Jonas) Haak, der als Analyst in einer Bank in London gearbeitet hat. Seine Aufgabe war das sogenannte „Shorten“, also durch Kursrückgänge von Aktien Gewinne zu erzielen. Diese Handlungsweise ist natürlich ethisch fragwürdig, weil das „Shorten“ massive Insolvenzen, Armut und Arbeitslosigkeit mit sich bringen kann. Joe Haak entwickelt nun ein Computerprogramm, genannt „Cassie“, das – wie einst die trojanische Königstochter Cassandra – Schwierigkeiten, Probleme und Unheil sehr genau voraussagen kann und damit seiner Bank große Gewinne beschert. Dabei stellt sich heraus, dass Ölknappheit und Grippepandemien die größte Bedrohung der menschlichen Zivilisation darstellen, weil sie zwangsläufig den Zusammenbruch der globalen und lokalen Lieferketten und anschließend Verteilungskämpfe auslösen sollen. Als „Cassie“ mutmaßlich einen Fehler macht, flieht Joe Haak und landet im Dorf St. Piran, das an der Küste von Cornwall liegt. Dort geht er ins Wasser, schwimmt weit hinaus und verliert bald seine Orientierung und Kraft. Ein Wal (der biblische Leviathan) rettet ihn und spült ihn an den Strand, wo er dann von Bewohnern des Dorfes gefunden und wiederbelebt wird. In der Zwischenzeit bricht eine Grippepandemie in Südostasien aus, die sehr schnell ganz Europa erreicht. In den Medien werden daraufhin Katastrophenszenarien generiert, die den Voraussagen von „Cassie“ entsprechen: Es droht der mutmaßliche Untergang der Errungenschaften der menschlichen Zivilisation; Chaos, Plünderungen und Bürgerkriege werden erwartet. Joe Haak erfährt davon und will die Bewohner von St. Piran davor retten, was ihm auch gelingt, letztendlich auch mit Hilfe des Wals, der ihn an Land brachte.

John Ironmongers Roman kann als Gegenentwurf zu Hobbes‘ Annahmen über den Menschen und auch seiner Epigonen (Yaneer Bar-Yam und Jared Dialmond) gelesen werden. Er ist im Endeffekt zugleich eine Anthropo- und Theodizee. Als Analysten nehmen Joe Haak und seine Kolleginnen und Kollegen an, dass vor allem der Egoismus und die Gier die Hauptantriebe der Menschen sind. Bricht die staatliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Ordnung zusammen, z.B. durch eine Grippepandemie, dann fallen alle, wie es Hobbes voraussagte, wieder in den rohen Naturzustand zurück. In Ironmongers Roman passiert aber genau das Gegenteil: Neben ein paar kleinen Ausreißern verhalten sich die Menschen in der durch die Pandemie verursachten Situation fast immer solidarisch, altruistisch und warmherzig. Wenn, so könnte man die zugrunde liegende These zusammenfassen, Gott nur das Gute für den Menschen will und der Mensch Gottes Ebenbild ist, dann muss letztlich der Mensch im Grunde auch gut sein. Dann sind Hobbes Annahmen über den Menschen falsch und entsprechen nicht der Realität. Ebenfalls lässt sich menschliches Verhalten nicht binär wie in einem Computerprogramm bestimmen, weil es oft ambig und widersprüchlich ist, und zwar in einem positiven Sinne.

John Ironmonger hat zugleich einen prophetischen Roman geschrieben. „Der Wal und das Ende der Welt“ ist 2015 in Großbritannien erschienen. Fünf Jahre später steht die Welt einer realen Pandemie gegenüber, die vieles, was im Alltag als normal und dauerhaft erschien, wegbrechen ließ. Ob die Hamsterkäufe an deren Beginn doch Hobbes Recht geben, muss jede und jeder Einzelne für sich beantworten.

John Ironmongers Roman mit seinem positiven Menschenbild kann als Utopie mit deskriptiven und konstruktiven Elementen beschrieben werden, die Anklänge an die griechische Mythen- und Sagenwelt sowie an bestimmte biblische Erzählungen haben. So will der Protagonist Joe Haak am Ende der Geschichte – in Anlehnung an Odysseus‘ Reisen – in seine Heimat zurücksegeln. Wie jede Utopie ist sie natürlich auch unterkomplex, aber sie ist nicht naiv. Stattdessen weist sie darauf hin, dass wir auch in Extremsituationen eine Wahl haben, wie wir uns verhalten. Und wenn dieses Verhalten solidarisch, altruistisch, zugewandt, freundlich und liebevoll ist, dann holen wir das Beste aus uns heraus. Und wie sagt Joe Haak gegen Ende des Romans: „Eigentlich ist es komisch, … dass wir überhaupt überrascht sind. Denken Sie an die Menschen, die Sie kennen. Denken Sie an Ihre Freunde, Ihre Familie, Ihre Nachbarn. Wie viele von denen würden Sie als gewalttätig oder gefährlich beschreiben? Wiese kommen wir überhaupt auf die Idee, dass wir uns in einer Krise plötzlich in andere Menschen verwandeln?“ (494)

Aus dem Englischen von Tobias Schnettler und Maria Poets
Frankfurt: Fischer Verlag. 2020
539 Seiten
12,00 €
ISBN 978-3-596-52304-7

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