Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Jürgen Heidrich / Johannes Schilling: Martin Luther - Die Lieder

Hohe Anerkennung gebührt den – im besten Sinne humanistisch, musikalisch und theologisch gelehrten – Herausgebern für dieses feinsinnige Werk, in dem ein Stück musikalische Geistesgeschichte eingefangen wurde. Die geistlichen Lieder Martin Luthers, insgesamt 36, sind darin gesammelt, sorgfältig geordnet und kommentiert. Sie seien, heißt es im Nachwort, „gesungene Theologie“, zugleich auch „der konzentrierteste, dichteste, dauerhafteste und wirkmächtigste Ausdruck“ der Theologie Martin Luthers (192). Diese besondere Form der Verkündigung der Frohen Botschaft beginnt um den Jahreswechsel 1523/24 und erreicht 1529 einen vorläufigen Höhepunkt. Luther, mit gutem Beispiel vorangehend, lädt verschiedene Leute zur Mitarbeit ein (Georg Spalatin, Johann Dolzig), sie darum bittend, einen Psalm in ein Lied zu übertragen, dabei auf das Aufnahmevermögen des Volkes zu achten und einfache Worte zu wählen, die den Sinn der Psalmen klar zum Ausdruck bringen. Das alles soll freilich in deutscher Sprache geschehen. Sein Projekt, das Evangelium auch durch den Gesang unter die Leute zu bringen, wird insgesamt von Erfolg gekrönt. Das früheste als Gesangbuch zu bezeichnende Dokument, 1524 in Erfurt und in Nürnberg gedruckt, markiert die Geburtsstunde des evangelischen Gesangbuchs, das im selben Jahr unter dem Titel „Wittenberger Gesangbuch“ erscheint, herausgegeben von Johann Walter. 

Man erfährt aus dem Nachwort, dass die musikalischen Quellen der Lieder Luthers vielfältig waren. Er hat die Melodie (die Musik) nicht so komponiert wie später Bach, sondern er hat sich bestehende Vorlagen angeeignet, sie erweitert, paraphrasiert und mit neuem Text versehen. Dass dabei der vorreformatorische lateinische Hymnus eine sehr fruchtbare Quelle war, kann den Kenner kaum überraschen. Wie die Autoren im Nachwort schreiben: „Prototypisch für dessen melodische und textbezogene Adaptation ist etwa Luthers Lied ‚Nun komm, der Heiden Heiland‘, das auf den Hymnus ‚Veni redemptor gentium‘ rekurriert, sich an diesem sogar ausgesprochen eng orientiert. Andere Melodien haben sodann ihre Wurzeln in den Gesängen des Ordinarium bzw. Proprium Missae.“ (199) Dennoch werden einzelne Kirchenliedmelodien für regelrechte freie Neuschöpfungen gehalten, wie etwa „Ach Gott, vom Himmel sieh darein“ oder auch das ganz frühe „Nun freut euch, lieben Christen gemein“ (ebd.). Der Liedgesang war ursprünglich unbegleitet, die Orgel kam erst langsam – und nicht ohne Widerstände – hinzu. Dass die Gemeinde singt, statt nur zu sprechen, hat im gläubigen Volk eine andere, subtilere Seelen-Kraft fühlbar gemacht als das bloß rezitierte Wort. Gerade im Zuge der Reformation wurde das Lied die schlichte und volkstümliche Art der Kirchenmusik. Dem früheren Mönch Luther war ja bewusst, dass es überaus gut für die Seele ist, wenn im Gottesdienst die Gemeinde sich im Lied artikulieren und auf diese Weise sich neu erleben kann. Seine Idee, die Psalmen in deutsche Lieder zu übertragen, war genial und hat damals, und darüber hinaus bis heute, reiche Früchte getragen. Ein besonderes Beispiel ist „Ein feste Burg ist unser Gott“, ein Bußlied in Anlehnung an Psalm 46. 

Der Konklusion der Herausgeber dieses äußert wertvollen Buches, dass Luthers Lieder eine Singschule des Glaubens seien, kann man nur zustimmen. Im Anhang (151-191) findet der Leser die Erläuterungen zur Entstehung der Lieder. Dem Rezensenten fällt noch eine tiefsinnige Formulierung von Martin Luther ein, die hierher gehört: Musik sei „die Kunst der Propheten, die einzige Kunst, welche den Aufruhr in der Seele besänftigen kann; sie gehört zu den herrlichsten und kostbarsten Gaben, die uns Gott geschenkt hat.“ Diese Gabe wird dem gläubigen Volk, den Vielen, die sich da zum sonntäglichen Gottesdienst versammeln, im Lied – im Singen eines sakralen Textes – am ehesten zugänglich. Hierzu hat Martin Luther einen überaus wertvollen Beitrag geleistet, nachzulesen und nachzusingen in dem vorliegenden Buch, dessen wahren Wert letztlich nur die fühlend singende Seele nachvollziehen und nachempfinden kann. 

Stuttgart: Reclam und Carus Verlag. 2017
204 Seiten m. s-w Abb.
35,00 € 
ISBN 978-3-15-011096-6 (Reclam)
ISBN 978-3-89948-287-4 (Carus)

 

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