Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Karl-Heinz Göttert: Weihnachten. Biographie eine Festes

 

Viele kennen den Kalauer zum Weihnachtsfest: Treffen sich zwei, sagt der eine zum anderen: „Weißt Du eigentlich, dass Heiligabend heuer auf einen Freitag fällt?“ Erschrocken der andere: „Hoffentlich ist es nicht auch noch der Dreizehnte?“ Dieser peinliche Bildungsfauxpas wäre nicht passiert, hätte man Karl-Heinz Götterts materialreiche Geschichte des Festes gelesen. Der Autor, geboren 1943, seines Zeichens emeritierter Germanistik-Professor, veröffentlichte in seinem fruchtbaren Akademikerleben eine Fülle von Fachliteratur und auch erfolgreiche populäre Sachbücher zur deutschen Sprach- und Kulturgeschichte. Der Verfasser nimmt sich „als Historiker“ die theologie- und kirchengeschichtliche Genese von Weihnachten von den ersten Anfängen bis in die Jetztzeit anhand der einschlägigen Quellen und Zeugnisse vor. Nicht um „Glaubensfragen, Wesen oder Sinn“ des Christfestes geht es ihm, sondern um die Verschlingungen von historischen und mythischen Traditionen. Er blickt dabei auf das in Frage stehende Phänomen aus der Außenperspektive – quasi durch die Brille eines Ethnologen, der die verwirrende Vielfalt einer eher fremden Kultur in ihrem spezifischen Weltverständnis zu entschlüsseln versucht. Die Leserinnen und Leser dieser Rezension ahnen, dass die Entscheidung für diese Perspektive sowohl Vor- als auch Nachteile mit sich bringt; dazu mehr am Ende.

Die Eingangskapitel widmen sich zunächst der Geburt Jesu in den Evangelien. Dieses Geschehen findet bei den Synoptikern Lukas und Matthäus seinen Niederschlag: Jener erzählt dabei spezifisch von der Geburt im Stall und den Hirten, dieser vom Besuch der Magier/Sterndeuter aus dem Morgenland, der Flucht nach Ägypten und dem Kindermord des Herodes. Göttert arbeitet u.a. Differenzen bzw. Widersprüche zwischen den beiden Texten, z.B. Lokalitäten und die Rolle der Volkszählung betreffend, heraus. Mythologisches und Historisches bzw. Mythos und Wahrheit würden hier zu einer nicht mehr durchschaubaren Gemengelage ineins gehen (8, 16). Einen besonderen Stein des Anstoßes bildet in unzähligen Textpassagen (ca. dreißigmal angesprochen oder diskutiert) das als realistisch verstandene Ereignis der Jungfrauengeburt, das die eschatologisch-soteriologische Bedeutung „absichern“ (65) soll. Für Göttert stellt sich dies – mit einem szientifisch orientierten Wirklichkeitsverständnis im Hinterkopf – als „Zumutung“, „ungeheuerlicher“ (12), „unglaublicher“ (24, 47) und „phantastischer“ (22) Art dar. Deutlich weniger bekommt die umgekehrte Perspektive Beachtung, in der die Gemeinde im nachösterlichen Licht Christus als den Heiland erzählt und dies im Bezug zum AT deutet, wie die moderne exegetische Formkritik hinlänglich aufgezeigt hat. Es folgt ein historisch bezugsreiches Kapitel über die „drei Magier“, ein Problemkreis, der sicher im Verlauf unserer diesjährigen Weihnachtszeit im Kontext der aufgeflammten Cancel Culture bzw. Rassismusdebatte um die Melchior-Gestalt von aktuellem Interesse sein wird.

Dass der eingangs erwähnte Kalauer zur Datierung von Weihnachten tatsächlich Licht auf ein in der Christentumsgeschichte diffiziles und umstrittenes Phänomen wirft, legt ein längerer Textabschnitt dar: Er gibt Aufklärung über die „Erfindung“ des Weihnachtsfestes. Erstaunlich für uns Heutige hatte die christliche Gemeinde die ersten Jahrhunderte „keinen Bedarf“ für Weihnachten: Zunächst stand als Dreh- und Angelpunkt das Osterfest im Fokus, das Kirchenjahr entwickelte sich, erste Heiligengedenktage wurden etabliert. Erst im 4. Jahrhundert führte man Weihnachten als „spätes“ Fest ein. Ausführlich werden die Gründe dafür und vor allem auch für die endgültige Fixierung des Geburtstags am 25. Dezember dargelegt und diskutiert. Es folgen dann Kapitel über die weitere Entwicklung durch die Kirchengeschichte vom Mittelalter über die Reformation (die englischen Puritaner verboten Weihnachten wegen des fehlenden/unklaren biblischen Bezugs!) bis in die neuere Zeit, in der Weihnachten zu einem bürgerlichen Familien- und Schenkfest kommerzialisiert und trivialisiert wird.

Abschließend sei summa summarum für Götterts Buch festzuhalten: Positiv ist die akribische Aufbereitung des immensen (kirchen-)geschichtlichen Materials hervorzuheben. Kritisch ist auf folgende Aspekte hinzuweisen: Der Autor hängt im Sinne eines erkenntnisleitenden Hintergrunds wohl der gängigen Formel: Vom Mythos zum Logos an. Diese sieht im Ineinander von Historischem und Mythischen bloß ein Ärgernis und will die Bibel nicht als hochkarätiges Narrativ für die gläubige Deutung des Daseins anerkennen. Dieser recht einseitig rationalistische Blick schlägt sich zuweilen in einer unangemessenen funktionalistischen Sprache nieder. Einige Beispiele: Die erzählerische Strategie des Evangelisten „funktioniert“ (11) mit diesen oder jenen „gut erdachten Geschichten“ (24); die biblische Erzählung wird durch ein Stilelement „getoppt“ (24), wodurch die Gottessohnschaft Jesu „festgezurrt“ (13) wird. Der Evangelist „lässt wieder einmal einen Engel auftreten“ (30), „verwandelt die Szenerie in eine große Oper“ (ebd.); ein „Ereignis …, das wieder einmal perfekt ausgedacht sein dürfte“ (33), zeigt eine „verdutzte Maria“ (ebd.). Die „Story“ (46) der „Geschichtenerfinder“ (35) hat sich „gelohnt“ (34), mit einer derartigen Erzählidee „funktioniert Erlösung“ (93).

Bleibt abschließend zu überlegen, wem dieses Buch wirklich nutzt. Göttert selbst gibt zwei Adressaten seines „Überblicks“ an: „Alle, die Weihnachten lieben wie auch diejenigen, die daran verzweifeln“ (Klappentext). Es ist wahrscheinlich, dass die an einem szientifischen Wissenschaftsideal orientierte Außenperspektive des Verfassers keinem der beiden Lesergruppen etwas bringen wird: Der heiße Kern, die unleugbare Faszination des Weihnachtsfestes, ist so, aus vorentschiedenen Gründen der Herangehensweise, nicht vermittelbar. Für beide – für Gläubige und (Ver-)Zweifelnde – wohl zu wenig. Fast ist man an den Untertitel von Nietzsches „Zarathustra“ erinnert: Ein Buch für alle und keinen.

Stuttgart: Reclam Verlag. 2020
252 Seiten m. s-w Abb.
25,00 €
ISBN 978-3-15-011306-6

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