Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Katja Petrowskaja: Das Foto schaute mich an

Bilder lösen etwas aus. Sie treffen den Betrachter, ziehen ihn in ihren Bann und lassen ihn nicht mehr los. Auch die 1970 in Kiew geborene ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja, die 2013 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis und 2022 mit dem Menschenrechtspreis der Gerhart und Renate Baum-Stiftung ausgezeichnet wurde, ist in diesen Sog geraten – immer wieder. Seit 2015 schreibt sie für die Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) alle drei Wochen die Kolumne „Bild der Woche“. Sie betrachtet Unscheinbares, Rätselhaftes, aber auch Alltägliches, Fotos von bekannten Künstlerpersönlichkeiten oder private Aufnahmen aus dem Familienalbum, und hebt in ihren Texten ungeahnte Tiefenschichten ans Licht. Mal fokussiert sie sich auf ein einfaches Detail, aus dem sie dann eine ganze Welt und komplexe Zusammenhänge entfaltet, mal sind es die politischen Hintergründe, mit denen sie dem Bild eine Stimme oder eine Irritation gibt.

Ein Großteil dieser poetischen und sprachlich dichten Moment- und Nahaufnahmen ist im Frühjahr 2022 in der Reihe „Bibliothek Suhrkamp“ unter dem Titel „Das Foto schaute mich an“ erschienen. Nicht sie habe die Bilder gesucht, sagte Petrowskaja, deren Debütroman „Vielleicht Esther“ (2015) bereits mit privaten Fotografien gearbeitet hat, in einem Interview, sondern die Fotos hätten sie gefunden. Ihr neues Buch gibt Zeugnis davon und stellt 57 dieser außergewöhnlichen Fundstücke zusammen. Die zeitliche Klammer um die chronologisch angeordneten Text- und Bildbetrachtungen ist das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Aber das Buch ist kein Buch über den Krieg, auch wenn es von ihm gerahmt wird: „Der erste Text entstand [2015], als der Osten der Ukraine von Russland angegriffen wurde.“ (247) Da habe sie angefangen, „aus Ohnmacht vor der Gewalt“ über Fotos zu schreiben, berichtet Petrowskaja. Das Nachwort verfasste sie nach dem russischen Überfall auf die Ukraine: „Es ist ein Angriff auf alles, was wir sinnvoll finden.“ (247) Die Aktualität der Bilder überrascht und beschämt zugleich: Was wollen wir nicht sehen und wovor verschließen wir (immer wieder) die Augen?

Petrowskaja kleidet ihre Fassungslosigkeit über die Geschehnisse in ihrer Heimat in Sprache, denn für sie ist das Betrachten von Fotos und das Sich-Anschauen und Betreffen-Lassen eine eindeutige Positionierung gegen jede Form von Gleichgültigkeit: „Krieg tötet, negiert Sinn, Normalität und Vielfalt, alles, was wir lieben. Krieg möchte unsere leisen Worte löschen. Ich möchte diese Miniaturen, diese kleinen Fragmente, dem Krieg entgegenstellen, auf der Suche nach Stimme.“ (248)

In den Fototexten, die wie ein „Tagebuch des Nachdenkens“ (249) immer wieder die globalen Menschheitsthemen Freiheit und Frieden umspielen, steckt eine enorme Kraft: Mal verdichten sie ein Empfinden oder eine Landschaft auf minimalem Raum, dann wieder bringen sie Biographie und Zeitgeschichte in großen Bögen zum Klingen. Immer aber bleibt in der Stimme (und Stimmung) der Autorin ein melancholisches Fragen, das sich auch auf den Leser überträgt – eine leise Ahnung von Glück und Liebe, wenn diese Momente nicht so flüchtig und so zerbrechlich wären. Petrowskaja bietet keine Bildanalysen, sie zeigt vielmehr, wie Sprache sich ermächtigt, Unsagbares zu beschreiben, und auf diese Weise dem Leben einen Fluchtpunkt, eine Fassung und Rahmung gibt.

Jeder Text steht für sich und erzählt mit überraschenden Wortspielen und Wendungen eine eigene Geschichte: ein rauchender Bergmann vom Donbass; eine Babuschka im Sessellift über den Bergen des Kaukasus; Sara und Rafael aus Włodawa; eine geflüchtete Syrerin, die in eine goldene Rettungsdecke gehüllt wie Botticellis Venus aus dem Meer steigt. Dazwischen „Neues von den Blumen“ aus Tschernobyl, ein Flugzeug in einer Schneelandschaft oder die Epiphanie einer Wolke im Berliner Volkspark Friedrichshain. Allen Texten gemeinsam ist ein nachdenklicher Tonfall, mit dem Petrowskaja die „Inflation der Bilder“ (249) zu bremsen versucht. Ihr Schreistil ist tastend und assoziativ, von ungemein poetischer Zartheit und großer Sensibilität. Dazu musste sie aber 2015 erst wieder die Kraft finden: „Ich konnte nicht weiterarbeiten wie zuvor und suchte nach einer neuen Form, nach einer Haltung, aus der heraus ich wieder würde schreiben können, auch über die Dinge, die ich liebe. Und es waren die Fotografien, die das Unausgesprochene ersetzen, die das Fragmentarische boten, Möglichkeiten der Stille und der Schönheit schufen.“ (247)

Petrowskaja legt Fährten, fragt und rätselt und führt ihre Gedanken stets zu bemerkenswerten Schlusspointen, die immer etwas schwermütig gestimmt sind. Gelöste Heiterkeit oder Sprachwitz findet man bei ihr eher selten. Sie nimmt alles ernst und schwer und bewegt sich gleichzeitig leichtfüßig durch die Welt der Kunst und Literatur. Ihre Texte verraten mehr, als die Fotos zeigen. Und doch sind es die Fotos, die etwas auslösen und die Betrachterin – und durch sie den Leser – in den Bann und zu sich herüberziehen. So auch das Bild des Bergmanns vom Donbass in der Eingangskolumne des Buches, dessen bestechende Augen eine gewisse Ferne überbrücken: „Das Foto schaute mich an. Die Nähe fesselte mich, erschreckt mich sogar. Ich wusste nicht einmal, wo Krasnoarmijsk sich befindet, doch dieser Mann stand vor mir, viel zu nah, und blies mir seinen Rauch ins Gesicht. […] Der Bergmann ist schwarz, und seine Augen sind weiß, aber er ist nicht blind, ich bin es, mit meinem Unwissen, mit meiner Ignoranz, gegenüber dieser Region, gegenüber diesen Menschen. Die Erkenntnis war schwarzweiß, aber das Foto war farbig, daraus blickte mir meine eigene Blindheit, meine eigene Ohnmacht entgegen.“ (7f.)

„Das Foto schaute mich an“ ist ein faszinierendes und sehr schön aufgemachtes Buch, das fesselt und inspiriert, einen immer wieder beschäftigt und lange nicht loslässt. Man bekommt einfach nicht genug davon, die Dinge durch Petrowskajas Augen zu sehen. 

Kolumnen
Berlin: Suhrkamp Verlag. 2022
256 Seiten m. Abb.
25,00 €
ISBN 978-3-518-22535-6

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