Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Konrad Hilpert / Jochen Sautermeister (Hg.): Selbstbestimmung – auch im Sterben?

Streit um den assistierten Suizid

Sterben ist in den westlichen Industrienationen meist kein Naturereignis mehr. Die erstaunlichen Fortschritte moderner Medizin erfordern eine Vielzahl von Entscheidungen über ein Repertoire von Handlungsoptionen am menschlichen Lebensende. Außerdem vollzieht sich die enorme Erweiterung medizinisch-technischer Optionen vor dem Hintergrund eines fundamentalen moralischen Paradigmenwechsel in der Arzt-Patienten-Beziehung weg von einem ärztlichen Paternalismus hin zum Primat des Selbstbestimmungsrechts der Patienten. 

Die erweiterten medizinischen Interventionsmöglichkeiten und gewandelten moralischen Orientierungen hinterfragen in schwerwiegender Weise die Plausibilität tradierter moralischer Bewertungen von Handlungstypen. Dass diese veränderte Lage auch den christlichen Kirchen und der theologischen Ethiktradition, die den Suizid sowie jede Beihilfe zur Tötung unschuldiger Menschen als in sich schlechte Handlungen qualifiziert hat, einiges zumutet, versteht sich von selbst. Der anspruchsvollen Aufgabe, alte Maßstäbe und Kriterien kritisch zu prüfen und ggf. neue aufzufinden, haben sich die beiden katholischen Moraltheologen Konrad Hilpert und Jochen Sautermeister gestellt und zwölf prägnante, kompetente und umsichtige Annäherungen an das sensible Thema von meist langjährig erfahrenen und sorgsam reflektierenden Seelsorgern (Reinhard Haubenthaler, Norbert Kuhn-Flammensfeld) und Theoretikern aus verschiedenen disziplinären Perspektiven versammelt. 

Der Spannungsbogen reicht von der Erörterung der Frage, was ein Wunsch im Allgemeinen und ein Sterbewunsch im Besonderen ist (Nina Streeck), bis zu einem Vergleich der Vertrauenshaltungen im Blick auf die christliche Auferstehung bei Hans Küng und Franz Böckle (Hanspeter Schmitt). Dabei werden phänomenologisch begriffliche Analysen des Sinns von Autonomie (Konrad Hilpert, Knut Wenzel) wie der theologischen Rede vom Leben als Geschenk (Veronika Hoffmann) genauso bemüht wie die Ergebnisse allgemeiner Suizid- (Adrian Holderegger) und moralpsychologisch-medizinischer Sterbewunschforschung (Jochen Sautermeister). Markus Zimmermann hinterfragt die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die jeweilige nationale Bevorzugung von assistiertem Suizid (Schweiz) und Tötung auf Verlangen (Niederlande) sowie die Implikationen für das Arztbild. Josef Schuster leuchtet die gewandelte juristische Einschätzung in Bezug auf die Garantenstellung des Arztes im Verhältnis zu Suizidenten aus. 

Alle Beiträge des Buches setzen voraus, dass der Suizid keine zum Lebenwollen symmetrische Option darstellt, die in einem liberalen Kundenmodell zur freien Auswahl angeboten werden dürfte. Daher könne es auch kein Menschenrecht auf Suizidassistenz geben. Zugleich ist es aber Konsens, dass der Äußerung von Sterbewünschen unbedingt ein nicht vorverurteilender kommunikativer Raum zu geben ist, und zwar sowohl individuell als auch strukturell. Es scheint sogar einiges darauf hinzuweisen, dass die Einrichtung solcher Kommunikationsmöglichkeiten suizidpräventive Wirkung besitzt. 

Ein signifikantes Ergebnis der bisherigen Diskussion und empirischen Suizidforschung zeigt, dass Suizidwünsche und suizidale Handlungen ungeprüft weder als Akte freiheitlicher Selbstbestimmung noch als Äußerungen psychischer Erkrankung gelten können, aber auch nicht als Ausdruck moralischer Verfehlung vorverurteilt werden dürfen. Hier gilt es, entgegen gefährlichen Simplifizierungstendenzen ein viel differenzierteres Bild zu gewinnen, nicht zuletzt um der Wahrung der moralischen Integrität aller Beteiligten – des Suizidwilligen, der begleitenden (ärztlichen) Personen, der Gesellschaft und des Gesetzgebers – willen. Die Suizidfrage ist zutiefst eine Gewissensfrage (Hartmut Kreß) und stellt gerade deshalb eine besondere Herausforderung an einen liberalen, die Gewissensfreiheit garantierenden Rechtsstaat in Bezug auf die Regulierung von zivilgesellschaftlichen Sterbehilfeorganisationen dar (Reinhard Böttcher). 

Hilpert und Sautermeister ist ein bleibend aktueller Beitrag zur Debatte über den assistierten Suizid gelungen. Wer um eine differenzierte und verantwortliche Urteilsbildung in Bezug auf den Umgang mit dieser sensiblen Thematik ringt, dem wird das Bändchen wertvolle Dienste leisten. 

Freiburg im Breisgau: Herder Verlag. 2015 
218 Seiten m. Abb.
14,99 €
ISBN 978-3-451-34287-5

 

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