Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Lutz Berger: Die Entstehung des Islam

Gegenwärtig ist der Islam zu einem Diskursfeld (Werner Schiffauer) geworden, auf dem wahre Schlachten stattfinden. Inner- und auch außerislamisch herrscht ein Kampf um die (theologische) Deutungshoheit des „Wesens“ des Islam und seinen (politischen) (Allein-)Vertretungsanspruch in der Gesellschaft. Für viele Akteure wird dabei vor allem die Entstehungsgeschichte dieser Religion zu einer Projektionsfläche, in der man – je nach Perspektive – schon ihre Defizite (Gewaltaffinität, Unterdrückung der Frau, Demokratiefeindlichkeit usw.) oder ihre Errungenschaften (Frieden, Dialog der abrahamitischen Religionen, Humanisierung der Gesellschaft usw.) zu finden meint.
 
Lutz Bergers Buch ist dagegen von wohltuender Nüchternheit und Sachlichkeit. Direkt in seinem Vorwort erteilt der Kieler Islamwissenschaftler deshalb allen eine Absage, die seine Ausführungen als ideologische Argumentationshilfe für oder gegen den Islam verwenden wollen. Bergers Intention ist es auch nicht, eine Religions- oder Ereignisgeschichte des frühen Islamim engeren Sinne sowie eine kritische Analyse der „muslimischen historiographischen Überlieferung“ (13) zu schreiben. Stattdessen rekurriert er auf zwei zurzeit starke geschichtswissenschaftliche Trends: Diese sind zum einen die historische Analyse der Entstehung und des Untergangs von Imperien, zum anderen die Würdigung der Spätantike als hochgenerative und hochproduktive Epoche und nicht mehr als Abfalls- und Untergangsgeschichte.Von daher möchte er „die Geschichte frühislamischer Gesellschaften als Beispiel für die Entstehung von Imperien darstellen und sie dabei in ihre zeitgenössische Umwelt einbetten“ (13).
 
Dieses Programm löst der Autor in den folgenden sechs Kapiteln fulminant ein. Er eröffnet dafür ein Panorama, das detailliert die spätantike Welt des 6. und 7. Jahrhunderts sowie ihre Umgestaltung durch die islamische Expansion bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts aufzeigt. Der Erfolg der Muslime gründet für Berger vor allem in zwei Faktoren: Auf der einen Seite haben sich das (ost-)römische und sassanidische Großreich über lange Zeiträume gegenseitig bekriegt, ohne sich zu besiegen; dies führte letztendlich zu einer erheblichen Schwächung ihrer wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen. Von daher konnte man den muslimischen Heeren nur im geringen Maße Widerstand entgegensetzen. Auf der anderen Seite galt für die Stämme der arabischen Halbinsel der Islam als die Religion des Erfolgs, vor allem in militärischer und damit einhergehend auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Mohammeds Siege über seine Widersacher, hauptsächlich über die Mekkaner, führte dazu, so die These Bergers, dass die arabischen Stämme die neue Religion schnell anerkannten und annahmen. Der Islam mit seiner Botschaft von der Gleichheit aller Menschen war dann im zweiten Schritt der Grund, dass sich die tribalen Strukturen und damit die Konkurrenzverhältnisse der arabischen Stämme untereinander auflösten und das Ideal einer umfassenden islamischen Gemeinschaft entstand. Dieses Ideal – und nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem Stamm – sowie die Aussicht auf Erfolg verband nach Mohammeds Tod bald die meisten Menschen auf der arabischen Halbinsel und ließ sie militärisch erfolgreich werden.Der Kieler Islamwissenschaftler zeigt zugleich auf, dass die muslimische Expansion kein Akt besonderer Gewaltaffinität war. Alle (etablierten) Reiche in der Spätantike versuchten, sich mit hartem militärischem Einsatz auszudehnen, unabhängig von der Religion, der sie angehörten.
 
Lutz Bergers Buch brilliert nicht zuletzt durch seine Sprache und seinen Aufbau. Der Islamwissenschaftler ist ein begnadeter Erzähler, der die Geschichte der ersten hundert Jahre des Islam spannend darbietet. Im Anhang finden sich eine Zeittafel, ein Glossar, der Anmerkungsapparat sowie ein kommentiertes Literaturverzeichnis, was sich als sehr hilfreich für die Orientierung erweist.
 
Zwei Dinge seien kritisch angemerkt. Erstens ist Bergers Buch sehr voraussetzungsreich. Trotz der eingängigen Erzählweise, die es leichter macht, sich durch die Fülle der Details zu bewegen, ist mindestens ein Grundwissen über die dogmatischen Auseinandersetzungen des frühen Christentums sowie über den Islam nötig. Von daher richtet sich die Publikation eher an ein Fachpublikum. Zweitens ist der Titel des Buches „Die Entstehung des Islam. Die ersten hundert Jahre. Von Mohammed bis zum Weltreich der Kalifen“ etwas irreführend. Selbst wenn Berger, wie er es schon im Vorwort sagt, keine Religionsgeschichte im engeren Sinne schreiben möchte, geht es doch fast ausschließlich um die spätantike Historie der sassanidischen und römischen Großreiche sowie der Stämme auf der arabischen Halbinsel. Der Islam spielt dabei in einem eher funktionalistischen Sinne eine Rolle, dass er – im Sinne eines Paradigmenwechsels – die Auflösung der tribalen Strukturen und die Einigung der arabischen Stämme bewirkt, die dadurch militärisch erfolgreich werden. Von daher bleiben viele Fragen offen, deren Beantwortung der Titel des Buches impliziert. Dieser müsste eher „Die Entstehung des muslimischen Weltreiches“ heißen, damit wäre die Intention der Publikation getroffen.
 
Als Fazit kann festgehalten werden: Lutz Bergers Buch ist sehr lesenswert, sein Ansatz ist innovativ und beantwortet die Frage, warum es den arabischen Stämmen und ihren (späteren) Verbündeten leichtfiel, innerhalb von hundert Jahren ein Gebiet in der Größe eines Imperiums zu unterwerfen.

München: C.H. Beck Verlag. 2016
334 Seiten m. Abb.
26,95 €
ISBN 978-3-406-69693-0

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