Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin W. Ramb / Holger Zaborowski (Hg.): Solidarität und Verantwortung oder Was Europa zusammenhält

Publikationen, die sich in besonderer Weise um Tagesaktualität bemühen, stehen in einer spezifischen Gefahr. Was im Moment der Planung und Durchführung eines solchen Projektes von drängender Aktualität ist, kann zum Zeitpunkt der Veröffentlichung schon überholt sein. So ist es dem vorliegenden Sammelband ergangen, der angesichts der Corona-Epidemie, der Finanzkrise, des Klimawandels und der nach Europa strömenden Migrationsbewegungen die Frage stellt, was Europa zusammenhält. Das Titelbild zeigt eine über der europäischen Landkarte schwebende Rettungsweste, und dass der Rand des Buchdeckels dabei ausgerechnet die Ukraine durchschneidet, wird zur traurigen Allegorie. Erst recht wirkt es aus der Zeit gefallen, wenn ein Beitrag die Europäische Union nicht nur einen „Glücksfall der Geschichte“ nennt, sondern als Begründung dafür anführt, „Frieden und Freiheit, Menschenwürde und Wohlstand, die radikale Antithese zu den den Kontinent über Jahrhunderte prägenden Erfahrungen von Krieg und Unterdrückung, Barbarei und Vernichtung“ seien „zur neuen Identität und Realität Europas“ geworden.

Allerdings geht der Tenor der meisten Beiträge keineswegs so sehr an der vom Ukrainekrieg geschaffenen Realität vorbei, wie das Titelbild und die zitierte Feststellung suggerieren. Vielmehr machen viele Autoren auf einen Befund aufmerksam, den der verstorbene Kirchenhistoriker Arnold Angenendt in seinen mentalitätsgeschichtlichen Studien als den menschlichen „Gentilismus“ behandelt. Damit ist die angeborene und in diesem Sinne natürliche Neigung des Menschen gemeint, nur Mitglieder des eigenen Sippenverbandes oder der eigenen Nation als seinesgleichen anzuerkennen. Das zeigt sich nicht zuletzt darin, dass es Sprachen gibt, die kein eigenes Wort für die Universalie Mensch besitzen. Insofern macht der Mitherausgeber Holger Zaborowski in seinen begriffsanalytischen Überlegungen deutlich, dass Solidarität die menschliche Fähigkeit bedeutet, diese Neigung zu überwinden und damit auch den Fremden und ganz Anderen über alle Differenzen hinweg als seinesgleichen anzuerkennen. Diese Fähigkeit müsse der menschlichen Natur darum in einem Prozess kultureller Prägung durch ein moralisches Sollen abgetrotzt werden. Liebe zu den eigenen Angehörigen als angeborene Neigung sei deshalb keine Solidarität. So machen neben Holger Zaborowski auch Barbara Zehnpfennig und Andrea Nahles darauf aufmerksam, dass gerade der christliche Gedanke einer Gotteskindschaft aller Menschen in Europa die bewusstseinsgeschichtlichen Voraussetzungen bereitgestellt hat, um die genannte gentilistische Neigung zu überwinden. Dies gilt bis in seine säkularisierte Gestalt des neuzeitlichen Naturrechtsdenkens hinein.

Damit taucht allerdings ein neues Problem auf. Denn es handelt sich dabei um eine partikulare Tradition, die einen universalen Anspruch formuliert, und damit fällt der Blick auf solche Nationen und Kulturen, die außerhalb dieser Tradition stehen und sich den darin entwickelten Geltungsansprüchen versagen. Vor allem wird von hier aus auf bedrückende Weise verständlich, was der Ukraine-Krieg zeigt: dass nicht jeder Staat, der auf dem Terrain Europas liegt, in diesem Sinne europäisch denkt.

Man darf hinzufügen, dass dieses Problem nicht nur außenpolitisch auftritt, sondern gerade auch innerhalb solcher Gesellschaften begegnet, die für sich in Anspruch nehmen, ihre Menschenrechtslektion gelernt zu haben. Denn auch die gegenwärtige Identitätspolitik fällt in für überwunden gehaltene archaische Verhaltensmuster zurück, wenn sie die Würde des Menschen nicht mehr in seinem Sein, sondern in seinem jeweiligen So-Sein erkennt, und denjenigen, die das nicht einsehen, Phobien zuschreibt. Eine Einseitigkeit des vorliegenden Bandes liegt darin, dass die innergesellschaftliche Produktion von Feindbildern primär als ein Problem derer behandelt wird, die wir der politisch rechten Szene zurechnen. Er thematisiert zu wenig, wie in der linken und identitätspolitischen Szene der legitime Kampf gegen Diskriminierung in eine ganz neue Diskriminierung der – oft nur angeblichen – Diskriminierer mündet.

Koordinaten Europas Band 1
Göttingen: Wallstein Verlag. 2022
378 Seiten m. Abb.
22,00 €
ISBN 978-3-8353-3768-8

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