Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Martin Walser: Lieber träumen wir alles, als dass wir es sagen

Drei alte weis(s)e Männer treffen sich in einem wunderschönen Haus direkt am Ufer des Bodensees. Arnold Stadler (68 J.) und Michael Albus (77 J.) besuchen Martin Walser (95 J.) in Nussdorf und sprechen zwei Tage mit dem Schriftsteller. Sie haben im Sinn, eine „dialogische Biografie“ Walsers aufzuschreiben. Was gäbe es nicht alles zu erfahren, wenn man einen so hochproduktiven und hochbetagten Autor, der inzwischen sein 96. Lebensjahr erreicht hat, ins Gespräch ziehen kann! Diese Chance wird respektvoll und intensiv genutzt. Walser lebt nunmehr ganz in der Gegenwart. Die Erinnerung ist kein kontinuierlicher roter Faden in die eigene Vergangenheit: „Zurückblicken – ich weiß nicht, was das ist.“ (11) Dafür gibt es aber „Rückblicksblitze“. Sie ziehen in Sekundenschnelle vorbei und vergegenwärtigen persönlich bedeutsame Erlebnisse – überdeutlicher als es andere Denk-und Fühlerfahrungen tun können. Wenn Walser es noch schaffen würde, sagt er, würde er ein Buch schreiben, das aus einer Folge von „Rückblicksdeutlichkeiten“ bestünde, von denen keine je einen Moment Dauer gehabt habe. Das wäre schon ein immenses Unterfangen, solche blitzartigen Momenteindrücke aus der Vergangenheit in Sprache zu fassen und sie auf diese Weise wiederzugewinnen – auch für Leser und Leserinnen.

Stadler und Albus knüpfen daran an und regen Walser zu einer Folge solcher Rückblicksdeutlichkeiten an, indem sie Ausschnitte aus dem autobiografisch imprägnierten Roman „Ein springender Brunnen“, aus „Mein Jenseits“ und aus anderen Werken einblenden und Walser so die Gelegenheit geben, Erinnerungen oder Kommentare damit zu verknüpfen. Das ist ein geschicktes Vorgehen, Gesprächsanlässe zu schaffen, weil es dem Dialog einen methodischen Bezugsrahmen gibt. Wir erfahren viele interessante Einzelheiten, z.B. wie Martin Walser seine spätere Frau Käthe kennengelernt hat, oder Anekdotisches über Arno Schmidt, Ernst Bloch oder Uwe Johnson. Trotzdem wird es nie voyeuristisch. Ein paar Blitze gelten auch dem Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, zu dem er bekannterweise eine sehr ambivalente Beziehung hatte. So schildert er mit gezügeltem Vergnügen, wie er und Reich-Ranicki einmal bei einem Empfang des Suhrkamp Verlags ihre Bücher signierten. Da hat es sich begeben, dass die meisten Leute Vnur von ihm ein Buch signiert haben wollten, und keiner wollte sich etwas vom Großkritiker unterzeichnen lassen. Dieser hat dann kurzerhand die bereits von Walser signierten Bücher auch seinerseits signiert. „Und das Typischste dieses ganzen Verhältnisses ist sicher, dass der Reich-Ranicki meine Bücher signiert.“ (101). Diese doppelt signierten Bücher haben sicher das Potential einer bibliophilen Rarität!

Walser hat seine Kämpfe ausgekämpft. Mittlerweile vertritt er die These – ob nun ernsthaft oder eher abwehrend –, dass Literaturkritiken fürs lesende Publikum geschrieben seien, nicht für die Autoren selber. Walser hatte einige Kämpfe zu bestehen. Denken wir an den Skandal um seine Rede in der Paulskirche. Das alles ist nicht ohne Verletzungen abgegangen, die er einräumt. Das hindert ihn jedoch nicht, ein paar scharfsichtige und ebenso scharfzüngige Aphorismen über einige prominente Literaturkritiker, vor allem aus der ZEIT, zu formulieren.

Walsers Roman „Ein springender Brunnen“ ist der wohl am stärksten autobiografisch inspirierte Roman. In der Gestalt der Hauptfigur Johann schimmert Vieles durch, was der Autor selbst erlebt hat, ohne dass man von einer absoluten Deckungsgleichheit sprechen sollte. „Deswegen darf man, wenn man etwas über Wasserburg oder über mich sagen will, nicht ‚Ein springender Brunnen‘ nehmen.“ (52) Der Roman wurzelt durchaus in der Wirklichkeit. Aber dadurch, dass es eben keine Dokumentation ist, sondern eine Fiktion, wird sie so überschrieben, dass dahinter etwas Neues, eine Idee aufscheint. Zweifellos enthalten literarische Fiktionen viel Reales wie z.B. Schauplätze, historische Hintergründe, Kunsttheorien usw., aber sie sind kein Selbstzweck. Das literarische Erzählen bzw. Fiktionalisieren gründet zwar im Realen, aber dieses wird zum Zeichen für etwas Anderes, was durch sie hindurch vorstellbar gemacht wird. Thomas Mann spricht von einer symbolischen Steigerung der Realität. Was dabei herausscheint, nennt Literaturwissenschaftler Wolfgang Iser das Imaginäre. Fingieren bedeutet daher immer eine Grenzüberschreitung zwischen Realem und Imaginärem. So wird Literatur zu einer spezifischen Form der Weltzuwendung eines Autors. Walser bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: „In dem Buch ‚Ein springender Brunnen‘, das ich über Wasserburg geschrieben habe, da steht viel über meinen Vater drinnen. Aber alles, was da drinnen steht über diesen Vater, sind seine Wirkungen auf einen inzwischen ziemlich erwachsenen Schriftsteller. So hat er gewirkt. … Der Sprachbaum, alles in ‚Ein springender Brunnen‘ sind Vaterwirkungen. Der Johann ist ein Seelenabbild meines Vaters.“ (51f)

Ausdrücklich erklärt Walser, dass es innige Wirkungen von Personen sind, die seine Romanfiguren ausmachen. „Im Buch muss es nicht so zugehen wie in Wirklichkeit.“ (60) Auf Seiten von Autor und Lesern und Leserinnen gibt es zwei komplementäre Bewegungen. Wenn der Autor durch seine Erfindungen etwas sprachlich Gestalt annehmen lässt, so „übersetzt“ der oder die Leser(in) die inszenierte fremde Textwelt in seine eigenen Erfahrungen. Er versucht, die fremde Welt zu deuten, und eignet sich so etwas an, das vorher nicht in ihm gewesen ist. So überschreitet auch der Lesende die eigenen Grenzen. Alfred Dorn, die Hauptfigur in dem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“, hat das Leben eines realen Beamten im hessischen Kultusministerium als Vorlage, aber eigentlich geht es um ein großes Thema: den Verlust der Kindheit und den vergeblichen Versuch, die Zeit festzuhalten. Walser hat einen wunderbaren Satz gesagt: „Literatur ist das Licht, das uns alle erleuchtet.“ (144). Er zitiert u.a. Proust, demnach ein Leser, wenn er liest, ein Leser seiner selbst sei. Das Werk des Schriftstellers sei dabei „lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reiche, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können.“ (43)

Die interessantesten Passagen des Buches beziehen sich auf das Schreiben an sich. Hier gibt es einiges zu entdecken, fast könnte man von Skizzen einer kleinen Poetik des Schreibens sprechen, wie sie sich aus der reflektierten Praxis eines Autors entwerfen lässt. Wie hat Walser mit dem Schreiben angefangen? „Ich schreibe halt. Und ich habe immer geschrieben.“ (35) Es gibt verschiedene Antriebe. Einer ist eher äußerer, ästhetischer Natur. Walsers Mutter hatte große Geschäftsbücher, die einen Meter lang und aus aalglattem weißen Papier waren. Da die Seiten von der Buchführung nie ganz voll beschrieben waren, übte das freie weiße Papier eine magische Anziehungskraft auf ihn aus – es wollte einfach beschrieben werden. Ein weiterer Antrieb ist die besondere Gestimmtheit, die sich aus Lektüre entwickelt. Einer, der schreibt, ist auch ein Leser. Wenn Walser z.B. Hölderlin gelesen hatte und durch die Dachbodenfenster aufs Rheintal schaute, stellte sich dieses Gefühl ein, auch wenn er in eine ganz andere Situation gestellt war. Auf diese produktive Leseerfahrung, diesen Stimmungsanlass, bei der er als Leser seine eigenen Grenzen überschreitet, reagiert Walser durch eigenes Schreiben. Es ist ein unmittelbarer Äußerungsdrang. Der dritte Antrieb ist existentiell: Es ist der Schmerz, dem das Schreiben vorausgeht. Immer tut etwas weh. Ihn schmerzt der Schmerz. Er kann sich in den Schmerz hineinversetzen. Daher sind viele Romanfiguren Walsers Gescheiterte, die im Leben aus irgendeinem Grund nicht zurechtkommen. Es lohnt sich, sich mit dem umfangreichen Werk Walsers zu beschäftigen. Ich kann es nur empfehlen.

Walser ist sehr wortmächtig. Es gelingt ihm, diesen existentiellen Schmerz glücklich zur Sprache zu bringen. Seine Bücher können als „nachträgliche Korrektur des Lebens und seiner Runden, die eckig sind“ (170), gelesen werden. Der Schmerz ist ein Bruder des Lebens, merkt Arnold Stadler an, er ist unausweichliche Folge des Augenblicks und sei er noch so glücklich. Nie kann man ihn festhalten, obwohl alle Lust doch tiefe Ewigkeit will. Das ist echt nietzscheanisch gedacht. Und dann muss er schreiben, ohne zu bestimmen, was daraus wird. So versteht sich Walser als „Objekt“ seiner Sprache. Er muss einem inneren „Kommando“ folgen, ob man dies nun mit „Es“ umschreibt oder anders. Es findet eine Entsprechung in „Ein springender Brunnen“: „Wenn er anfängt zu schreiben, soll schon auf dem Papier stehen, was er schreiben möchte. Was durch die Sprache, also von selbst aufs Papier gekommen wäre, müsste von ihm nur noch gelesen werden. Die Sprache, dachte Johann, ist ein springender Brunnen.“ (41)

Man kann sich mit Walser gar nicht vertieft beschäftigen, ohne auf sein Verhältnis zur Religion zu sprechen zu kommen. Er ist katholisch aufgewachsen. Zwei Tanten waren Klosterschwestern. Die kunstreichen oberschwäbischen Kirchen, die Kirchenmusik, eine spezielle Predigtrhetorik haben seine ästhetische Sensibilität und Empfänglichkeit geschult: „Religion ist für mich der Leidensblick des Benefiziaten zum Himmel und in die Tiefe, und die Stimme von Anton Grübel aus dem Kirchenchor.“(79) Was seine Erfahrungen mit der Institution Kirche angeht, so hat er sich schon früh distanziert. Wer die Erzählung „Mein Jenseits“ liest, die auch durch Walsers Auseinandersetzung mit Karl Barths Römerbriefkommentar angeregt ist, wird mit elementaren Glaubenszweifeln und Glaubensverzweiflungen konfrontiert. An einer Stelle heißt es da: „Der Glaube heißt Berge besteigen, die es nicht gibt.“ Ein ewiges Hin- und Her zwischen glauben wollen und nichtglauben können. In seinem Roman „Muttersohn“ ist sein Religionsverständnis in allen Facetten ausgebreitet.

Wenn man mit einem hochbetagten Menschen ins Gespräch kommt, ist die Frage nach den letzten Dingen irgendwie unabweisbar. Albus und Stadler lassen hier taktvollerweise Textausschnitte aus Walsers Werken „Ein sterbender Mann“ und „Spätdienst“ zu Wort kommen, die wegen ihrer lakonischen Formulierungen berührend und eindringlich sind. Es schließt sich der Kreis der Erinnerungsblitze. Der allerletzte könnte großartig sein, er ist absolut erfüllte Gegenwart: „Das Ende könnte so sein: ein Andrang von allem und sofort. Eine Fülle zum Schluss wie nie zuvor.“ (125)

Ein Gespräch mit Michael Albus
Mit einem Essay von Arnold Stadler

Ostfildern: Patmos Verlag. 2022
223 Seiten
25,00 €
ISBN 978-3-8436-1258-6

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