Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Maura Zátonyi OSB (Hg.): Das große Hildegard von Bingen Lesebuch

 

Das von Maura Zátonyi OSB vorgelegte Buch anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Erhebung der Hildegard von Bingen zur Heiligen und Kirchenlehrerin im Jahr 2012 ist eine Frucht von ganz unterschiedlichen Bemühungen um die Heilige, die Abtei in Eibingen und die dortige St. Hildegard-Akademie e. V. hinaus. Als Vorsitzende dieser Akademie, Benediktinerin der Abtei und Übersetzerin der Werke der hl. Hildegard legt die Herausgeberin ein Werk vor, das in seiner Konzeption in dieser Art kein Vorbild kennt: Vor der Darbietung und Kommentierung der Texte durch die Herausgeberin steht eine Einführung mit Wissenswertem zur hl. Hildegard. Die folgenden zwölf Kapitel bieten unter unterschiedlichen thematischen Überschriften einen Einblick in die Werke der hl. Hildegard mit Kommentar. Ein Literaturverzeichnis und ein Register runden das Buch ab, so dass ein abschließender Einblick in die Forschung geboten wird, die Ausgaben der Werke aufgeführt sind und Wichtiges stichwortartig aufzufinden ist. Die zwölf Kapitel beginnen mit einem ersten Kapitel, in dem Selbstaussagen der hl. Hildegard kommentierend vorgestellt werden. Die weiteren Kapitel reichen dann vom Vorspiel zum Heil, das für Hildegard mit der Schöpfung der Welt anhebt, bis zum vollendeten Dasein als Abschluss des Buches.

Die Textauswahl orientiert sich einerseits an der subjektiven Erfahrung der Lesenden, die bei Hildegard heute aus ihrer persönlichen Beschäftigung Antworten auf die Fragen ihres Lebens suchen, um Orientierung, Rat und Impulse zu erhalten. Die im Lesebuch aufgenommenen Texte spiegeln andererseits die Vielfalt der literarischen Tätigkeit Hildegards. Denn es werden ihre Visionsschriften, komponierte Lieder, Gedanken aus ihren Briefen und Predigten berücksichtigt. Damit wird auf das gesamte Repertoire an vorhandenen Texten zurückgegriffen.

Im Lesebuch wird deutlich, dass die zwei Hildegard zugeschriebenen naturheilkundlichen Schriften, die wir heute kennen, das Buch „Physica“ (Heilsame Schöpfung) und das Buch „Causae et curae“ (Ursprung und Behandlung der Krankheiten) nur im Kontext von Hildegards Theologie gelesen werden können. Deutlich wird dies etwa exemplarisch am Begriff der „Viriditas“, der Grünkraft, die ausgehend von der Pflanzenwelt das Leben hervorbringt, Gras, Blumen, Sträucher, Bäume usw. wachsen lässt und zugleich auf das menschliche Leben übertragen wird. Denn auch das tugendhafte Wirken des Menschen besteht im Wirken der „Viriditas“. Wer sein Tun aus der inneren Lebenskraft schöpft, dessen Werke verströmen einen Lebensduft. Das Wachstum des Menschen an Tugend wird also genauso wie das Wachstum der Pflanzen mit einem Begriff bezeichnet, der Gott, Welt und Mensch verbindet. Die Betrachtung der Natur und die Betrachtung des Menschen geht bei Hildegard also von der Perspektive Gottes, coram deo, aus, um die Schöpfung von Gott her in den Blick zu nehmen. Dabei steht der Mensch für Hildegard als Abbild Gottes im Mittelpunkt der Schöpfung, die in Christus erlöst ist, was wiederum auf das Werk der bei der Empfängnis des Gottessohnes wirkenden Kraft der „Viriditas“ im Schoße Mariens zurückgeht. Diese Erläuterungen aus dem neunten Kapitel, das den Titel „Im Rausch der Sinne“ trägt, zeigen, wie Hildegards Theologie der bildlich wie begrifflich vermittelten Präsenz Gottes die Klammer um ihr literarisches Werk bildet und sich von den Visionsschriften bis zu ihren Briefen und Predigten durchzieht. Es wird deutlich, dass die drei großen Visionsschriften „Liber Scivias“ (Das Buch der Wegweisungen), „Liber vitae meritorum“ (Das Buch der Lebensverdienste) und „Liber divinorum operum“ (Das Buch vom Wirken Gottes) jene Unmittelbarkeit der Verbindung mit Gott in unterschiedlichen Bildern transportieren, die in der Grünkraft unmittelbar in der Natur oder in der Tugend des Menschen greifbar ist. Selbst in der literarischen Gattung der Briefe dokumentiert sich diese Unmittelbarkeit der Verbindung mit Gott, wenn Hildegard zur Posaune Gottes in der Korrespondenz mit Äbten, dem Kaiser und anderen Personen ihrer Zeit wird. Diese und weitere Detailentdeckungen lassen sich im Lesebuch anhand der kommentierten Texte Hildegards als spirituelle und theologisch-intellektuelle Impulse auf einzigartige Weise vertiefen.

Worte wie von Feuerzungen
Freiburg: Herder Verlag. 2022
320 Seiten
25,00 €
ISBN 978-3-451-39166-8

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