Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Maura Zátonyi OSB in Verbindung mit Frank Höselbarth (Hg.): Europäische Spiritualität

Der Titel des Sammelbandes klingt anspruchsvoll. Er enthält Beiträge, die als valide Argumente in die lohnende Diskussion um ein Europa christlicher Werte eingebracht werden können.

In seinem einleitenden Beitrag gibt Kardinal Kasper einen guten Überblick, wie das, was mit dem Namen „Europa“ bezeichnet wird, im Lauf der Geschichte aus der Begegnung verschiedener Kulturen entstanden ist. So sehr dabei seit der Zeit griechischer Philosophie der Mensch mit seiner Würde im Mittelpunkt steht, so ambivalent sind aus heutiger Sicht die großen kulturellen und religiösen Auseinandersetzungen (Kreuzzüge, Verhältnis Juden – Christen) zu beurteilen.

Spuren einer solchen Ambivalenz im Leben der Hildegard von Bingen zeigt mit spannender historischer Präzision der Museums- und Kulturamtsleiter Matthias Schmandt auf. Die sogenannte Synagogen-Vision Hildegards fällt im 12. Jahrhundert zusammen mit den im Kontext der Kreuzzüge begangenen Gräueltaten von Christen an Juden, auch in lokaler Nähe zum Disibodenberg. Die zwar judenfreundliche, jedoch gegenüber „Heiden“ sehr aggressive Position Hildegards wird in dem Beitrag verständlich aus einem fein gesponnenen Beziehungsgewebe mit Bernhard von Clairveaux und der Sponheimer-Dynastie, denen der Disibodenberg gehörte und die just zu dieser Zeit zu einem parallelen Kreuzzug gegen die „heidnischen“ Elbslawen aufriefen. Hinzu kommen apokalyptische Motive: Der große Theologe Bernhard wollte Hildegard als Prophetin der Endzeit präsentieren. Als beides scheiterte – die Welt drehte sich weiter und der Wenden-Kreuzzug war ein Desaster – wurden die entsprechenden Texte Hildegards für die Aufnahme in ihre Schriftensammlung „retuschiert“.

Solche Beobachtungen machen deutlich, wie sehr das aus dem alten Mönchtum stammende „ora et labora – Kontemplation und Aktion/Kampf“ in seiner Gleichgewichtigkeit zu sehen ist. Der Personalberater Frank Höselbarth erzählt die Geschichte einer zunächst ganz auf die Gottesschau ausgerichteten, aus der Ostkirche stammenden Mönchsspiritualität, die dem Westen Europas durch die Schriften des Kirchenvaters Johannes Cassian vermittelt wurde. In ihr waren Elemente einer von der griechischen Philosophie geprägten Leib- und Arbeitsfeindlichkeit enthalten. Das biblische Paradigma dafür war die bekannte Maria-und Martha-Stelle, interpretiert zugunsten der auf Jesus hörenden, inaktiven Maria. Es war nun Meister Eckhart, der rheinische Mystiker und Seelsorger zahlreicher Frauenklöster, der genau diese Perikope in seiner Predigt „gegen den Strich“ auslegte. Die reifere der beiden Schwestern, so Eckhart, sei Martha. Sie sei nicht in der „Beschauung“ sitzen geblieben, sondern habe in ihrem Tun umgesetzt – verwirklicht –, was sie im Gebet erfahren hat. Im Unterschied zu im Glauben nicht verwurzelten Werken nennt Eckhart ein solches Tun „Gewerbe“. Der göttliche Wille besteht danach im Fruchtbarwerden menschlichen Handelns, das freilich nicht mit Effizienz zu verwechseln ist. Gegen eine „Werksfrömmigkeit“ (Luther) spricht Eckhart von einem innerlich freien, menschlichen Tun ohne Rechtfertigungsdruck, das aus der „unendlichen Gebefreudigkeit menschlichen Seins“ fließt. Eine interessante Beobachtung ist dabei, dass Luther im Jahr 1516, also noch vor dem Thesenanschlag, die „Theologia Deutsch“, eine von Eckhart geprägte Schrift gelesen und mithilfe des Buchdrucks einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat.

Wie sehr Eckhart die Geschichte der Mystik beeinflusst hat, welche Bedingungen für eine Kritik mystischer Erkenntnis zu erheben sind, macht Günther Kruck, Studienleiter an der Katholischen Akademie in Frankfurt, in seinem anschließenden Beitrag deutlich.

Und noch einmal „ora et labora“: Einer mittelalterlichen Handschrift, die Textsammlungen von Martin von Tours sowie von Benedikt von Nursia enthält, widmet Maura Zátonyi, Eibinger Benediktinerin und Herausgeberin der Gesamtschrift, ihren Beitrag. Sie buchstabiert das daraus resultierende Spannungsverhältnis mit allen darin enthaltenen Aspekten durch: Kampf – Dienst, Ordnung – Strukturen, vertikale und horizontale Dimension, Charisma und Institution, Spiritualität und Alltag. Gerade hier, im Alltag, hat sich ja Frömmigkeit zu bewähren und scheitert vielleicht auch im Kloster manchmal an dem Anspruch, „virtuose Normalität“ sein zu wollen (so der Untertitel).

Wenigstens kurz sei am Schluss noch auf einen Beitrag zur Geschichte der Moderne verwiesen. Der Theologe und Diplomat Michael H. Weninger beschreibt das Bemühen, christliche Werte in das Werden der Europäischen Gemeinschaft einzubringen. Er selbst war, was leider aus dem Autorenverzeichnis nicht hervorgeht, an „vorderster Front“ tätig: als Berater bei den Präsidenten der Europäischen Kommission Prodi und Barroso. Für den lesenden Zeitgenossen ist es spannend wie ein Kriminalroman („Kontemplation und Kampf“), die verschiedenen Bemühungen zu sehen, welche am Ende zwar nicht zu einer Aufnahme des Gottesbezugs in die EU-Verfassung führten, jedoch die christlichen Kirchen als einen ernst zu nehmenden Partner im gesellschaftlichen Diskurs anerkannten. Ausdrücklich genannt werden im Verfassungstext das kulturelle und religiöse Erbe Europas sowie humanitäre Werte wie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit. Weninger würdigt den Beitrag der Päpste sowie von Politikern, die sich wie Robert Schuman und Jacques Delors dieser Verantwortung bewusst waren.

Wie in einem Mosaik – nicht genannt wurden Beiträge zur Musik und einem „Gebetsbuch“ Hildegards sowie zur Architektur des Disibodenbergs – ordnen sich die Beiträge dieses Bandes zu einem Gesamtbild, das Gottesbezug und Nächstenliebe miteinander verbindet. Kontemplation im Wirken, oder wie Ignatius von Loyola es als sein – dann auch Europa prägendes – Lebensmotto beschrieb: „in actione contemplativus“.

Kontemplation im Wirken
Münster: Aschendorff Verlag. 2021
248 Seiten m. farb. Abb.
28,00 €
ISBN 978-3-402-24759-4

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