Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Mauro Fosco Bertola / Christiane Solte-Gresser (Hg.): An den Rändern des Lebens

Im Hinblick auf Dz̑evad Karahasans Roman „Der nächtliche Rat“ schreibt Hanna Matthies: „Erst die Begegnung mit den Toten bringt ihm (dem Protagonisten, L. H.) seine Handlungsfähigkeit und seine Lebendigkeit zurück.“ (213) Der Titel des Sammelbandes ist passend gewählt: Die Ränder des Lebens zeigen sich dort, wo man seine Handlungsfähigkeit verliert. Wir können paradoxerweise durch den Tod allem eine Bedingung stellen: Entweder dieses oder jenes geschieht oder ich töte mich. Wir können aber nicht sagen: Ich lasse mich nur geboren werden oder ich sterbe nur, wenn … Die Ränder eines Lebens haben ihre eigene Bedingungslosigkeit und so wundert es nicht, wenn sie im künstlerischen Bereich wichtige Themen werden. Und weil der Traum auch eine Form der seine eigene Realität bedingenden Unbedingtheit hat, ist er nicht umsonst Geschöpf von des Schlafes Bruder (Hypnos und Thanatos). Dabei ergibt sich als bedeutungsvoll für die künstlerische Darstellung: „Die unausweichlich bestehende Kluft zwischen einer allgemeinmenschlichen Erfahrung und ihrer subjektiven, individuellen Nicht-Erzählbarkeit lotet der Traum in ebenso irritierende wie origineller Art und Weise aus.“ (8)

In den angesprochenen mittelhochdeutschen Erzähltexten (Nine Miedema) liegt das Schwergewicht auf ihren Negatives für die Mutter-Kind-Beziehung bewirkenden Träumen. Zwei frühe lithografische Alben Odilon Redons fühlen sich in den Kontext einer evolutionsheoretischen Erlebnistönung seines Zeitalters ein. Sie sind für den Rezensenten ein schönes Beispiel für die Vorstellungen von einem unbewussten Evolutionsgott, der sich im Traum (wie Ernst Bloch zu sagen pflegte) ohne Selbstbewusstsein herausprozessieren will. Dem entspricht Katharina Thurmair: „Trotz dieser Evokationen konkreter Referenzrahmen entziehen sich die Blätter einer eindeutigen Interpretation und verweisen … den Betrachter auf die reine Seherfahrung zurück.“ (61)

Sigrid Ruby schreibt über die Künstlerin Dana Schutz (How We Would Give Birth, 1977) im Kontext einer kunstgeschichtlichen Betrachtung zum Thema von Geburtsvorgängen. „Der Geburtsvorgang … gehört … nicht zur Ikonographie der Geburt in den europäischen Bildkünsten. Das hier dominierende Narrativ ist das von der Geburt Christi, des Mensch-gewordenen Sohn Gottes, die sowohl weibliche als auch transzendente Dimensionen besitzt.“ (85)

Mauro Fosco Bertola beschäftigt sich mit einem herausragenden Vertreter der neuen Musik, mit Salvatore Sciarrino (Lohengrin, 1983). Musikalisch testet Sciarrino gern die Grenzen der Hörbarkeit aus. Im Lohengrin, dem sich Sciarrino über eine Erzielung von Jules Laforgeu (1887) nähert, bekommt Elsas Suche nach der Liebe die Bedeutung einer anthropologischen Grunderfahrung: „Sie ist das Zeichen einer verlorenen Einheit mit der Welt, die nicht zurückgewonnen werden kann. … Liebe ist bei Sciarrino nicht Erlösung, sondern ein nie zu erfüllendes Begehren des soziokulturellen Subjekts.“ (120)

Angela Calderón Villarino untersucht Gerard de Nervals „Aurélia“ (1855), der ein Traumtagebuch im Sinne einer unterweltlichen Jenseitsreise im Kontext vor allem christlicher und spiritistischer, aber auch vieler anderer Vorstellungen inszeniert. Dabei verschiebt sich die Auseinandersetzung mit dem Tod hin zu einer Auseinandersetzung mit dem Traum und seiner Bedeutung.

In Peter Brandes‘ Beschäftigung mit Traumdarstellungen in Thomas Manns „Zauberberg“ (1924) vermisse ich den essenziellen Hinweis auf das seit der Antike vertraute Erzählmotiv der Jenseitsreise. Genau damit setzt Manfred Engel sachgerecht ein, wenn er über „Träume vom Leben nach dem Tode bei Jean Paul“ schreibt und mit dem antiken Gilgamesch-Epos einsetzt.

Arnold Schönbergs unvollendetes Oratorium „Die Jakobsleiter“ (1915ff) ist unter anderem stark inspiriert durch Balzacs Novelle „Seraphita“, durch die die Himmelsleiter bei Schönberg als Medium des Auf- und Absteigens karmisch geprägter Seelen interpretierbar wird (Axel Schröter).

Nach der Lektüre des Sammelbandes bleibt trotz der Unterschiedlichkeit der Beiträge ein Gespür dafür haften, welche Tendenzen der unübersichtlichen Moderne durch das Thema „Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten“ etwa in weltanschauungsanalytischer Hinsicht relevant sind. In dieser Hinsicht kann ich den Sammelband empfehlen.

Träume vom Sterben und Geborenwerden in den Künsten
Paderborn: Fink Verlag. 2019
419 Seiten m. Abb.
79,00 €
ISBN 978-3-7705-6450-7

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