Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Hochschild: Moralischer Anti-Terrorismus

Der Titel verblüfft in seiner Haupt- wie Unterzeile: Was mag mit dem moralischen Anti-Terrorismus gemeint sein? Doch nicht die x-te Auseinandersetzung mit der Plage des islamistischen und sonstigen Terrorismus? Und die „Postmoderne“ aus der Unterzeile: War das nicht jener „Es gibt keinen Logos, nur Perspektiven“-Hype aus den 1980-er Jahren, der heute eher abgestanden wirkt? Aber dann, im vierten der sieben kurzen Kapitel, erfährt der überraschte Leser, dass es Immanuel Kant war, der den Begriff des „moralischen Terrorismus“ ins Spiel brachte. Der Denker aus Königsberg bezeichnete damit in seiner Schrift „Streit der Fakultäten“ eine Haltung, die unsere Welt im kontinuierlichen Niedergang wähnt; ein Szenario, das zu den ältesten Stereotypen der Menschheitsgeschichte gehören dürfte. Nun also der moralische „Anti-Terrorismus“, der von dem in Paris wirkenden Soziologen und Philosophen Michael Hochschild bescheiden in der Gestalt „kleiner“ Zeitdiagnosen annonciert wird und zudem einen neuen Ansatz des „postmodernen“ Denkens andeutet. Der Leser erhält dann tatsächlich das, was der Titel vermeldet, ist bei der Lektüre abwechselnd fasziniert und irritiert, beschenkt und provoziert. Denn es ist ein Parforce-Ritt durch die Tiefen und Untiefen der späten Moderne, unserer Gegenwart also, auf den ihn der Autor mitnimmt; eine Gedankenreise, die Flexibilität verlangt und Holpriges nicht ausschließt.

„Und wenn das Problem mit der Moderne nicht von ihren diversen Schwächen, sondern von ihrer angeblichen Stärke herrührte?“ Mit dieser Frage eröffnet Hochschild das resümierende Schlusskapitel und bietet dem Leser eine mächtige Assoziationsfläche. Denn, so mag dieser sich denken: Lassen sich Arbeitslosigkeit, demographische Explosion, die angstmachende Migration nicht als die dunklen Schwestern der fortwährenden Technisierung, des medizinischen Fortschritts, der Anziehungskraft der westlichen Werte auffassen? Und könnten sich dann die attraktiven Kulturen nicht „kaputt siegen wie ein Mensch, so dass am Ende die gleiche Diagnose stünde: Burn out?“ Wer dies als Leitfrage im Sinn behält, kann sich den dichten Diagnosen Hochschilds anvertrauen. Dem Gedanken über den Umschlag der Quantität ins Antihumane beispielsweise, den der Autor sehr eindrücklich am Phänomen des (Paris-)Massentourismus veranschaulicht: „Auf den Plätzen, in den Restaurants sind aus Menschen Touristen geworden. Aus Sinn nichts.“ 

Die naheliegende Frage nach Alternativen „zur Rettung des Humanen“ beantwortet der Soziologe in mehreren Ansätzen. Zunächst mit dem Verweis darauf, dass die Zeit der Superhelden mit ihren lachhaften „Super-Egos“ abgelaufen sein mag, nicht aber die Zeit des intelligenten, dienenden „Nano-Ego“. Hochschild weist sowohl auf Angela Merkel hin, die auch linksrheinisch ob ihres „erfolgreichen Regierens in schwierigen Zeiten“ großen Respekt genießt, als auch auf die auffällig hohe Zahl der Selig- und Heiligsprechungen in der Kirche des 20. Jahrhunderts: „Mag der Heilige in den Augen der Gläubigen auch noch so groß sein, er ist und bleibt ein Diener – ein Nano-Ego; gerade und vor allem in der Selbstüberwindung.“ 

Diese Mentalität erspürt der Autor auch in der Renaissance der Barmherzigkeit, die nicht nur in der Verkündigung von Papst Franziskus einen Ankerpunkt darstellt. Barmherzigkeit ist gefragt, wenn es unübersichtlich wird, wenn sich die bisherigen Lösungsstrategien als überholt erweisen. Wer nicht resignieren möchte, nicht einknicken vor der „normativen Kraft des Faktischen“, der muss barmherzig handeln. Auf den titelgebenden Begriff bezogen: „Es ist moralischer Antiterrorismus, wenn man sich der Welt mit ihren Nöten, Fragwürdigkeiten und Schieflagen annimmt, mit ihr ringt statt auf nörgelnden Sicherheitsabstand zu bleiben und ihr Zug um Zug mehr Lebensqualität verschafft.“ 

Nach pointierten Betrachtungen zu deutsch-französischen Zuständen und Differenzen, nach Reflexionen über den Leib und die „Diäten des Gemüts“ angesichts (real-)terroristischer Bedrohung, nach einer starken These über unsere „heterorhythmische“ Zeitbewirtschaftung widmet sich Hochschild der ungewöhnlichen Frage, ob die „unersättliche“ Moderne noch einen „Haltepunkt“ kennt oder unübersehbar weiterwuchern wird. Seine Antwort entspricht – nach etlichen Windungen und Wendungen – der „kleinen“, „postmodern“ apostrophierten Zeitdiagnose, die sich auf keine neue „Großerzählung“ mehr stützen mag. Der Blick des postmodernen Denkens „richtet sich wie selbstverständlich auf das Phänomen von sozialen Bewegungen im weitesten Sinne, weil man dort von jeher mit mehr oder weniger Erfolg vorgemacht hat, wie es auch anders gehen könnte. Das bietet Anschauungsmaterial für ein Denken der Alternativität.“ Religiöses Leben und Denken ist hierbei durchaus ein Verbündeter. Warnt es doch permanent davor, die Welt und das Weltliche zu verabsolutieren, ermutigt zugleich, einen „anderen“ Blick zu wagen. Und waren es nicht stets die besten religiösen Traditionen, die im Zweifelsfall der Barmherzigkeit den Vorzug vor System und Dogma gaben? Kurz: „Am moralischen Antiterrorismus führt heute kein Weg vorbei.“

Münster: LIT Verlag. 2015
93 Seiten
19,90 €
ISBN 978-3-643-90671-7

 

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