Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Köhlmeier / Konrad Paul Liessmann: Der werfe den ersten Stein

Der Untertitel dieses Buches – „Verdammungen“ – und das Inhaltsverzeichnis – „Betrug, Lüge, Eifersucht …“ – könnten den Eindruck erwecken, hier ginge es um strenge moralische Verurteilungen. Wer aber aufgrund eines solchen Missverständnisses das Buch aus der Hand legt, bringt sich um ein ebenso unterhaltsames wie anregendes Lesevergnügen. Denn hier haben zwei Autoren zusammengefunden, die beide das Schwierige mit scheinbar leichter Hand zu vermitteln vermögen. Der eine Schriftsteller, der andere Philosoph. Der Schriftsteller Michael Köhlmeier ist bekannt für seine freien Nacherzählungen von Sagen, Märchen und biblischen Geschichten. Diese werden so vorgetragen, dass sie in einem zeitlosen Raum zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schweben scheinen, aber in Stil und Diktion sich deutlich als zeitgenössische Texte darstellen. Konrad Paul Liessmann, Professor emeritus für Philosophie an der Universität Wien, erweist sich als einfühlsamer Interpret dieser Texte und als Philosoph, der sowohl deren zeitlosen anthropologischen Kern wie auch deren Relevanz für die Gegenwart freizulegen vermag.

Eine Parabel mit dem Titel „Betrug. Der falsche Mann“ eröffnet den Geschichtenreigen und zeigt die Methode der beiden Autoren. Ein Mann verlässt seine Frau, um in der Ferne Arbeit zu finden. Einen formellen Kontakt zu seiner Frau, von der er sich längst entfremdet hat (und umgekehrt), hält er über gut gelaunte Briefe, die er von einem Ghostwriter schreiben lässt. Dieser verinnerlicht die Gefühle, die er in seinen Briefen ersinnt, und reist schließlich, von Sehnsucht getrieben und mit Einwilligung seines Auftraggebers, zu der Frau. Dort gibt er sich als deren Mann aus und trotz der Zweifel wegen des andersartigen Aussehens werden sie ein glückliches Paar. Bis der echte Mann unerwartet zurückkehrt und mit dem Argument „Betrug ist Betrug“ den Nebenbuhler vertreibt und die alte unglückliche Partnerschaft wieder aufnimmt.

Der Philosoph stößt mit seinen einleitenden Fragen gleich in medias res und eröffnet einen weiten Problemhorizont: Ist ein Leben ohne Täuschung, Selbsttäuschung und ohne gelebte Fiktionen überhaupt denkbar? Und was passiert, wenn diese Täuschungen auffliegen? In der folgenden Analyse werden die unterschiedlichen Formen des Betrugs in der Geschichte freigelegt. Es zeigt sich, dass die Bewertung von Täuschungen vom Kontext und den Erwartungen der Beteiligen abhängt. Gutgläubigkeit, Vertrauensseligkeit und vor allem die Sehnsucht nach Glück sind die Tore, durch die skrupellose Betrüger immer wieder Zugang zu ihren Opfern finden. Schließlich münden diese Überlegungen in die grundsätzliche ethische Frage, welcher Wert Vorrang haben sollte: das moralischen Prinzip „Betrug ist Betrug“ oder die Lebenswirklichkeit des Paares, die zwar auf einer Täuschung beruht, aber beide glücklich macht.

In einer ähnlichen Weise werden die anderen Geschichten Köhlmeiers unter der Überschrift eines gravierenden, aber häufig anzutreffenden Fehlverhaltens auf eine zentrale ethische Fragestellung hin durchdrungen. Im Streit zwischen Kriemhild und Brünhild aus dem Nibelungenlied ist die Eifersucht das treibende Motiv. Meister der Intrige, ein weiteres Thema, ist der rachsüchtige Jago, der durch Verbreiten von Halbwahrheiten, Streuen von Gerüchten, Absprachen hinter dem Rücken von Beteiligten und Vorenthalten von Informationen, kurz durch Intrigen, den venezianischen General Othello zu Fall bringt. Anlass, über „Verrat“ nachzudenken, gibt die biblische Geschichte des jüdischen Riesen Samson und der schönen Philisterin Delila, die ihrem Geliebten das Geheimnis seiner Unbesiegbarkeit entlockt und es ihren Landsleuten verrät.

Diese und die anderen Geschichten werden von Köhlmeier spannend erzählt und in einer unprätentiösen, verständlichen Sprache, mit philosophischem Hintergrund und praktischem Wirklichkeitssinn von Liessmann interpretiert. Im Religions- und Ethikunterricht kann man die Geschichten auch als „Fallgeschichten“ einsetzen und daran Gespräche zur ethischen Urteilsbildung anknüpfen. Aber jenseits solcher didaktischen Erwägungen ist das Büchlein für jeden Leser ein Gewinn. Denn, wie der Titel andeutet, ist auch er immer ein Betroffener.

Mythologisch-philosophische Verdammungen
München: Carl Hanser Verlag. 2019
223 Seiten

20,00 €
ISBN 978-3-446-26402-1

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