Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Kühnlein (Hg.): konservativ?! Miniaturen aus Kultur, Politik und Wissenschaft

Im Jahre 1795 lobte Napoleon Bonaparte einen Preis aus für ein Verfahren, mit dem man verderbliche Lebensmittel haltbar machen und seine Soldaten ohne Plünderungen ernähren konnte. Die Lösung war: die Konservendose – eine rundweg praktikable, ja sogar äußerst menschenfreundliche Lösung für das anstehende Problem. In heutigen Zeiten gilt aus kulinarischen und ökologischen Gründen solches Konservieren als höchst umstritten und veraltet, bestenfalls als „old school“ belächelt. So geht es auch der weltanschaulichen Haltung des „Konservativen“ – gängige Zuschreibungen dazu sind: ewiggestrig, reaktionär, Reformverweigerer, Bremser des Fortschritts … Andererseits erfordern augenscheinlich gesellschaftlich sowie individuell mitreißende und strukturverändernde Wandlungsprozesse auch eine konservative/erhaltende Umgangsform mit diesen. Man denke z.B. an den rasanten, verlustreichen Wandel in Sachen Klima, Artenvielfalt, Genpool, an die alles überrollende Globalisierung, Digitalisierung und Künstliche Intelligenz oder an neue Sitten am digitalen Stammtisch sowie in extremistischen politischen Gruppierungen.

Um verhärtete Lagerdebatten in diesem Dilemma aufzubrechen, hat Michael Kühnlein, Dozent für Philosophie und Politische Theorie an den Universitäten Frankfurt und Heidelberg, der erst vor kurzem ein über 900-seitiges Handbuch zur Religionsphilosophie und Religionskritik publizierte, einen Essay-Sammelband herausgegeben, in dem (111 an der Zahl!) sachkundige, hochkarätige und bekannte Politiker (z.B. W. Schäuble, G. Gysi, C. Özdemir), Kulturschaffende (z.B. I. Radisch, U. Tellkamp) , Wissenschaftler (z.B. W. Singer, B. Tibi, V. Hösle) und Kirchenleute (z.B. Kardinal Woelki, A. Wucherpfennig) „ohne ideologisches Marschgepäck“ ihre lebensgeschichtlichen und -prägenden Erfahrungen mit dem Phänomen des „Konservativen“ in überschaubaren „Miniaturen“ zusammenfassen. Die Mehrzahl der Beiträge tendiert zu einem klugen, abwägenden und lebensnahen Sowohl-als-auch zwischen Bewahren/Kontinuität und Verändern/Zäsur, denn nichts erfordert ja so viel Treue wie ein lebendiger Wandel. Typisch dafür etwa folgende Grundaussagen: „Wenn alles bleiben soll, wie es ist, dann muss sich alles ändern.“ (der Journalist J. Kaube), „Bewahren des Bewährten, nur wenn man bereit ist, Unbewährtes fallen zu lassen“ (der Hirnforscher W. Singer) oder: „Traditionen weder um ihrer selbst willen bewahren, noch sie reflexhaft entsorgen“ (die Philosophin S. Flaßpöhler).

Provokativer und aufreizender sind natürlich extremere Positionen, die entweder das Konservative äußerst kritisch einschätzen, es gar als höchstgefährlich bewerten oder in ihm den adäquatesten Umgang mit sich und der Welt ansehen. Zu ersteren gehört z.B. S. Leutheusser-Schnarrenberger, ehemalige Bundesjustizministerin. Sie bringt den Konservativismus primär mit einer substanzlosen Unterwerfung des Menschen unter eine deutsche bzw. europäische Leitkultur in Verbindung, um angesichts eines schwindenden gesellschaftlichen Zusammenhalts einen völkisch-ethnischen Nationalismus zu erzwingen. Wer eine solch überkommene Staatsform auch nur anstrebe – und hier verwendet die Autorin eine theologische Kategorie – „macht sich schuldig.“ (163) Konkreter mit massiven Anwürfen gegen das Konservative wird z.B. der ehemalige Geschichtsprofessor und zeitweise Generalsekretär der Villa Vigoni, eines Netzwerks für europäischen Dialog, B. Roeck: „Konservative von begrenzter Intelligenz,… terrible simplificateurs, … gewissenlose Zyniker“ (179) flüchten angesichts der verlustreichen Veränderungsgeschwindigkeit durch Globalisierung und Medienrevolution reflexartig in überkommene religiöse und vergangene gesellschaftspolitische Schemata, „als die Menschen noch fromm waren, die Familien intakt und die Nation kräftig, groß und nicht von Fremden verunreinigt.“ (178) Konservativismus gewissermaßen als Opium fürs einfache Volk, das zunehmend aggressiv um sich schlägt. Dies äußere sich in Hetze gegen Migranten, Moslems und Juden sowie Leugnung des Klimawandels.

Bedenkenswerte und kluge Argumente für das Konservative gibt es exemplarisch z.B. aus folgenden Perspektiven: Zunächst rekurriert man auf grundlegende anthropologische Zusammenhänge. Im Sinne des antiken „Natura non fecit saltus“ hebt der Frankfurter Neurophysiologe Singer den konservativen Charakter evolutionärer Abläufe hervor; radikaler Neuanfang ist in Entwicklungsprozessen nicht möglich, Aufbau auf Vorhandenem ist erforderlich. N. Bolz, Professor für Medienwissenschaften, sieht in der (Über-)Komplexität unserer Welt das gewichtigste Argument für das Konservative: Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit verweisen auf – zumindest provisorische – Üblichkeiten und Routinen des Anknüpfens, die „Restabilisierungen“ für das endliche Wesen Mensch gewähren. Die Beweislast für die revolutionäre Veränderung habe stets der Veränderer. Geradezu in die Offensive geht der Publizist A. Grau, der das konservative Lager programmatisch dazu auffordert, gegen linksliberale utopische Entwürfe, die zur Zeit die Kulturhoheit erobert hätten, aber in autoritäre und nivellierende Zustände führten, ein eigenes Narrativ entgegenzusetzen, anstatt jene Stück für Stück zu adoptieren. Konservative Gesellschaftsformen mit den aufklärerischen Leitbildern von Freiheit und Individualität seien „wertvoller, reicher und menschlicher“ (157) als die Praktiken spätmoderner Eliten.

Summa summarum bieten die „Miniaturen“ ein argumentativ überreiches Panorama geistreicher Wortmeldungen zum fraglichen Thema, die die persönliche Lektüre absolut lohnen und als Impulse im Oberstufenunterricht oder für die Arbeit im Seminar beste Dienste leisten werden. Während die Talkshows der TV-Medien sich in Endlosschleifen leerlaufen, würde man sich für weitere diskussionswürdige Problemkreise unserer Gegenwart mehr derart seriöse und gehaltvolle Gedankenanstöße wünschen.

Berlin: Duncker & Humblot. 2019
495 Seiten
24,90 €
ISBN 978-3-428-15750-1

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