Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Seewald: Dogma im Wandel

Der historische Wandel stellt für das Selbstverständnis der katholischen Kirche und ihre Dogmatik eine existenzielle Herausforderung dar. Seit dem 19. Jahrhundert versucht das römische Lehramt, die Institution Kirche und ihre Glaubensüberlieferung aus dem Werdegang der Geschichte herauszunehmen und als überzeitliche Gebilde zu promulgieren. Theologen, die in systematischer Form oder mit Blick auf Einzelfragen Wahrheit, Glaube, Evangelium und Dogma geschichtlich interpretieren, geraten unter „Modernismus“- oder „Relativismus“-Verdacht.

Der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald hat nun eine äußerst lesenswerte und zugleich lesbare Studie zum Thema Dogmenentwicklung und Dogmenverständnis vorgelegt. Er geht darin nicht nur dem Prozess des Verkeilens von Kirche und Moderne nach, sondern bietet in einem historischen Längsschnitt einen Einblick in den modellierenden Umgang mit dem Problem der „instabilen Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität“ (285). Er weist nach, wie katholisch der Entwicklungsbegriff im Kern ist und wie vielgestaltig der Dogmenbegriff in der theologisch-kirchenamtlichen Praxis „verwendet“ wurde. Kirchen- und theologiegeschichtlich weniger Interessierte werden einige wenige Aspekte des Buches aus ihrem Studium kennen – etwa die Unterscheidung von Evangelium und Dogma, die Hellenisierungs- und Verfallsthese Adolf von Harnacks oder die Diskussion um die Kontinuität von Tridentinum, Vaticanum I und Vaticanum II, die innerkatholisch immer wieder zu Diskussionen führt. Vieles aber wird neu sein.

Der Autor begnügt sich in seinem didaktisch gut aufbereiteten Buch aber nicht mit der Darlegung von Begriffs- und Theologiegeschichte, sondern er möchte zugleich evaluieren und orientieren. Ein Beispiel: Dass gerade die auf Traditionswahrung bedachten Päpste des 19. und 20. Jahrhunderts die Dogmenentwicklung in revolutionärer Weise vorantrieben haben und dabei selbst zu Theologen wurden, hält der Autor für eine eher ungute Entwicklung. Denn es mache einen Unterschied, ob das „außerordentliche Lehramt“ nur in den wenigen Grenzfällen von Häresie eingreift oder ob es als „ordentliches Lehramt“ theologisches Denken einschließlich Dogmenentwicklung aktiv betreibt – so die reaktionären Neuerer auf dem Stuhl Petri. In der Konsequenz landet die Kirche dann nämlich nicht nur bei der Bevorzugung philosophischer oder theologischer Denksysteme vor anderen, sondern bei der Dogmatisierung von „Wahrheiten“, die nicht „in der göttlichen Offenbarung enthalten sind, aber mit solchen Wahrheiten in einem notwendigen Zusammenhang stehen“ (vgl. Katechismus der katholischen Kirche, 88). Was also z. B. tun mit der Monogenismus-Theorie aus Humani Generis 37, die das Erbsündendogma absichern sollte, aber eine biohistorische Falschtatsache verbindlich mitdefiniert? Was tun mit Ordinatio sacerdotalis, dem historica ratione begründeten Ausschluss der Frau vom Priesteramt? Wird hier nicht eine zeitbedingte Vorstellung musealisiert statt auf Gottes Anruf wach reagiert? Laut Seewald ist es tragisch, dass die Vertreter der sog. Tübinger Schule oder Köpfe wie Newman und Loisy, später de Lubac, Daniélou und Congar anfangs nicht durchdringen konnten mit ihrer Kritik an der Neuscholastik. Ihnen war klar, dass die Kirche und ihre Glaubenslehre einem historisch kontingenten Prozess unterliegen, der eine „Entwicklung“ des Dogmas bzw. ein vertieftes Verstehen der Offenbarung geradezu notwendig macht. Dieses Herleiten und Verstehen lässt sich aber eben nicht auf logische Conclusiones reduzieren. Erst im Umfeld des letzten Konzils konnte die Theologie durch eine personal ausgerichtete Neuerschließung des Offenbarungsbegriffs die Funktion des Dogmas neu limitieren. Tragisch ist freilich, dass der Begriff des Glaubens nachkonziliar-lehramtlich wieder verengt wurde auf ein propositional-satzhaftes Verständnis.

Seewalds Buch ist durch und durch dem katholischen Diskussionskontext verhaftet. Es bietet im gegenwärtigen Grabenkampf zwischen Traditionalisten und Reformern ausreichend Munition, freilich eher für die Reformer. Der Autor vermeidet jedoch Parteinahmen in den aktuellen Debatten um Homosexualität, Umgang mit Geschiedenen, Frauenpriestertum, etc. Das ist auch gut so. Einige kleine Frechheiten erlaubt er sich dennoch, etwa wenn er von „tagesaktueller Rechtgläubigkeit“ spricht oder davon, dass auch das Lehramt „nur Theologie biete“. Das Buch gehört in jede theologische Bibliothek. Es lehrt, wie vielgestaltig die notwendige Bejahung des Dogmenbegriffs ist und wie falsch, Dogma mit kirchlichem Glauben zu identifizieren.

Wie Glaubenslehren sich entwickeln
Freiburg: Herder Verlag. 2018
334 Seiten
25,00 €
ISBN 978-3-451 37917-8

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