Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Seewald: Reform

 

Der Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald gehört zu den scharfen Kritikern des römisch-kurialen Selbstverständnisses und der in diesem wurzelnden Form lehramtlicher Praxis. Sein neues Buch, das eine auf die Ekklesiologie fokussierte Kurzform von „Dogma im Wandel“ darstellt, plädiert angesichts der umfassenden geistlich-geistigen Krise für einen Paradigmenwechsel im „Denken“ der Kirche über sich selbst. Im Zentrum der Überlegungen stehen allerdings nicht konkrete und sattsam bekannte Reformforderungen, sondern historisch-genetische Aspekte, welche die kognitive Dynamik sowie die Geschichtspolitik des kurial-päpstlichen Apparates seit dem 19. Jahrhundert in den Blick nehmen. Seewalds Anliegen ist es, die lehramtliche Selbstfesselung der katholischen Kirche aufzudröseln, um die Legitimation für das unabdingbare semper reformanda wieder freizulegen.

Seewalds Analyse in aller Kürze: Die Antwort der römischen Kirche auf die Modernisierungs- und Pluralisierungsprozesse der Aufklärung bestand zwei Jahrhunderte lang in der Kanonisierung und kontinuierlichen Ausweitung der päpstlichen Autorität einerseits sowie in der Dogmatisierung und Verrechtlichung des Glaubens andererseits. Diese innovativ-katholische Form institutioneller Kontingenzbewältigung und Komplexitätsreduktion, die zweifelsohne auch Erfolge vorzuweisen hatte, kommt seit einiger Zeit deutlich erkennbar an ihre Grenzen. Mittlerweile müssen erhebliche Energien investiert werden, um autoritativ ergangene Entscheidungen, die sich als sachlich falsch (Hominisation/Monogenismus), kontingent (Sakramentsverständnis) oder inopportun (Religionsfreiheit) herausgestellt haben, zu überschreiben, der Vergessenheit zu überantworten oder mit einer Steigerung des Drohpotenzials zu wiederholen. Der Systemschutz im Kontext eines selbst herbeigeführten permanenten Ausnahmezustandes verunmöglicht mittlerweile vollkommen eine glaubhafte Verkündigung des Evangeliums.

Abhilfe könne – so Seewald – nur über ein erneuertes Verständnis dessen erfolgen, was Kirche ist und worin ihre Identität bestehen soll. Es gehe in ihr eben nicht um das Mitschleppen eines immer umfangreicheren und schwereren dogmatischen Marschgepäcks, sondern um die zeitgemäße Neuartikulation des Evangeliums selbst. Schon die ersten Christen hätten schließlich nicht einfach die Reich-Gottes-Botschaft Jesu als Lehre weitergegeben, sondern einen ganz anderen Inhalt, nämlich die Auferweckung des Gottessohnes, verkündet. Das Evangelium sei immer lebendiges, adressatenbezogenes Wort und eben nicht schriftgelehrt und beamtenkorrekt zu verwaltendes Traditionsgut. Kontinuität werde deshalb auch nicht über propositionale Sätze eines Katechismus gewährleistet, sondern über die lebendige Communio personarum und eine ständig von Gott neu konstituierte Ekklesia (124). Ein solches Verständnis ermögliche dogmatische und ekklesiologische Korrekturen und lasse damit auch das theologiegeschichtliche Schattenboxen nach dem Schale-Kern-Modell hinter sich.

Wer noch die hermeneutischen Debatten der 1960er Jahre über dieselben Themen oder auch die Diskussion um die „Kurzformeln des Glaubens“ im Kopf hat, wird sich nach der Lektüre des Buches erneut schmerzhaft der verlorenen Jahrzehnte bewusst. Vielleicht ist mit dem Pontifikat Bergoglios ein letztes Mal die Tür dafür offen, der Geschichte eine neue Wendung zu geben, bevor die Kirche endgültig zu einem „unter die Völker verstreuten Freilichtmuseum“ (152) wird.

Die kritischen Einwände gegen Seewalds dogmenrelativierenden Reformansatz liegen auf der Hand, und auch diese haben sich seit sechzig Jahren nicht verändert: Was bleibt von der Normativität der Tradition, wenn alles durch einen zeitgeistigen, aktualistischen Filter hindurchmüsse? Was bleibt von der Autorität, wenn eine Korrektur von Lehrinhalten erfolgt? Kann ein Primat der Pastoral bei der Bestimmung dessen, was dogmatisch gilt, noch die Einheit der Kirche gewährleisten? Hat nicht der Weg der Protestanten in den letzten Jahrzehnten bewiesen, dass eine Anpassung an die Moderne die Glaubenssubstanz erst recht zum Schwinden bringt?

Für Seewald gibt es gleichwohl keine theologisch verantwortbare Alternative, aber eben auch keine Gewähr, dass die Inventur der Lehrinhalte und des lehramtlichen Systems sowie der Aufbruch zu einem neuen „Intercourse“ (Newman) mit der Welt gelingen. Nur zaghaft wird bei Seewald eine für viele getaufte Christen in Mitteleuropa zentrale Problematik angedeutet: Nicht ob es Heil außerhalb der Kirche gibt, steht infrage, sondern ob dieses noch innerhalb zu finden ist.

Covergestaltung und Titel suggerieren eine flotte Lektüre mit leicht verdaulichem Inhalt. Das Gegenteil ist der Fall. „Reform“ ist ein Buch für akademisch Gebildete und an Theologie Interessierte. Es sei insbesondere allen Religionslehrkräften ans Herz gelegt, denen die geschichtliche Dimension des Glaubens im Erkenntnis- sowie im didaktischen Vermittlungsprozess am Herzen liegt.

Dieselbe Kirche anders denken
Freiburg: Herder Verlag. 2019
173 Seiten
20,00 €
ISBN 978-3-451-38349-6

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