Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Michael Theobald: Der Prozess Jesu

 

Die Frage nach dem historischen Jesus und den Anfängen der Christologie stehen nach wie vor im Zentrum der neutestamentlichen Exegese. Dennoch sind diachrone, überlieferungskritische Analysen heute eher selten. Besonders in der Johannesforschung überwiegt heute eine synchrone, narratologische Perspektive. Michael Theobald aber begreift die synchrone und diachrone Lesart als sich nicht ausschließende, sondern ergänzende Methoden. So verfolgt er mit vorliegendem monumentalen Band das doppelte Ziel, zum einen die vier kanonischen Passionserzählungen (PE) in synchronischer Lektüre literarisch und theologisch zu profilieren und zum anderen ihre Genese soweit wie möglich überlieferungskritisch zu rekonstruieren, um der Notwendigkeit eines historischen Diskurses und der Pluralität der frühchristlichen Theologiegeschichte gerecht zu werden (38). Die zentrale Grundannahme stellt die auch seinem Johanneskommentar (RNT, Bd. 1, 2009) zugrundeliegende Hypothese dar, dass das JohEv bzw. die Johannespassion keine redaktionelle Neufassung der synoptischen Vorlagen ist, sondern auf einer eigenen Überlieferung gründet. Näherhin bezieht sich der Autor auf die von F. Schleritt 2007 vorgelegte Rekonstruktion der vorjohanneische PE, die eine Lukas und Johannes gemeinsame Passions- und Osterüberlieferung voraussetzt. Der mk Überlieferungsstrang, an den sich Matthäus eng anschließt, ist von dem joh/lk unabhängig (95f.). Vor der Rekonstruktion der ältesten greifbaren PE sichtet der Autor die in Frage kommenden Quellen, zuerst die Primärquellen des kanonischen Evangeliencorpus, dann die apokryph gewordenen Evangelien sowie weitere Quellen jüdischer und römischer Provenienz (45–212). Schon hier wird deutlich, dass auch die älteste PE (= PEG) ein literarisch-theologisches Konstrukt darstellt, das eine heilsgeschichtliche Intention verfolgt und erzähltheoretisch nicht als fiktionale, sondern als „faktuale“ Erzählung einzuordnen ist (187f.). Sie bedient sich zwar fiktionalisierender Elemente, orientiert sich aber an Geschehnissen, die stattgefunden haben. Auf die historische Frage nach dem Todesdatum Jesu lässt PEG nur darauf schließen, dass die Ereignisse sich vor einem Paschafest zugetragen haben und dass Jesus am Rüsttag eines Sabbats starb (177). Die synoptische und johanneische Passionschronologie stellen PEG weiterführendetheologische Konstrukte dar. Während der synoptischen PE daran gelegen ist, das letzte Mahl Jesu als Paschamahl darzustellen, geht es der johanneischen darum, Jesus zur Zeit der Schlachtung der Paschalämmer sterben zu lassen (176).

Die Rekonstruktion von PEG erfolgt in dichter Einzelanalyse auf über 300 Seiten (219–527). Durchgehend zeigt sich die Rezeption des AT als eine die Erzählung gestaltende und deutende Matrix. So unterstützen besonders die Propheten und der Psalter nicht nur die Darstellung der Kreuzigungsszene, die von den Ps 22; 38; 69 und 88 wesentlich konfiguriert wird, sondern auch die Komposition aller anderen Szenen. Gleichwohl enthält die rekonstruierte PEG, die der Autor am Ende zusammenhängend wiedergibt (514–522), noch einen beträchtlichen faktualen Kern, der den Versuch einer historischen Rekonstruktion der letzten Tage Jesu erlaubt (529–726). So zeigt sich – um nur einige Punkte zu nennen –, dass Jesu Zusammenstoß mit der Tempelaristokratie ein Konflikt zwischen Prophet und Priester war, also durchaus typisch für Israel. Jesus trat als der Prophet und Verkünder der nahen Königsherrschaft Gottes auf und drohte den Priestern Jerusalems wegen ihres Glaubens an eine an Heiligtum und Opferkult gebundene Heilsgegenwart Gottes das Gericht an. Da die hohen Priester in der Tempelaktion Jesu und seiner Prophetie der Königsherrschaft Gottes den Status quo des Tempelstaats gefährdet sahen, wollten sie gegen ihn vorgehen. Nach seiner Festnahme und Anklage durch den Hohepriester, dass er sich durch seine selbstbewusste Reich-Gottes-Ankündigung im Sinne von Dtn 17,12f.; 18,9–22 einer todeswürdigen „Vermessenheit“, nämlich der Auflehnung gegen Gott, schuldig gemacht habe, wurde er dem römischen Präfekten überstellt, der in der Theokratieproklamation Jesu einen umstürzlerischen Königsanspruch sehen konnte. Da Jesus auf die entscheidende Frage, ob er sich als „König der Juden“ verstehe, schwieg, fiel er ohne weiteren Prozess der gesetzlichen Strafe anheim. Nach seiner Aburteilung wurde Jesus gegeißelt und vor der Stadtmauer öffentlich gekreuzigt. Wie er starb, ist nicht bekannt. Er muss aber schon nachmittags gestorben und noch vor dem Paschafest von Josef aus Arimathäa beigesetzt worden sein. Der Fall Jesu dürfte in der Gesamtwertung politischer sein, als ihn die Evangelien darstellen.

Nach dieser historischen Rekonstruktion der letzten Tage Jesu wendet sich Theobald der theologischen Erschließung zu, ausgehend von der Ambiguität historischer Forschung (727–797). Ambiguität und Mehrdeutigkeit prägen zunächst Jesu Auftreten selbst, da es von den Anklägern als „Vermessenheit“, von den Anhängern als „Vollmacht“ verstanden wird (729). PEG wandelt die historische Ambiguität in die Eindeutigkeit des österlichen Bekenntnisses um. Wie die verschiedenen Evangelien zeigen, bleibt die christologische Mehrdeutigkeit jedoch erhalten (734). Keimzelle der kanonischen PEen war die Passionsmemoria der Paschafeier mit ihrem schrifttheologischen Wurzelgrund von Psalter- und Prophetentexten (793).

Ohne Zweifel ist Michael Theobald mit seiner historischen und theologischen Erschließung der Passionsüberlieferung ein beeindruckender Wurf gelungen. Seinem Versuch einer vollständigen Rekonstruktion der ältesten PE gebührt Respekt. Die Herausarbeitung des prophetischen Selbstverständnisses Jesu im Gegenüber zu den Jerusalemer Priesteraristokraten und Schriftgelehrten verdient sowohl im christologischen Diskurs als auch im interreligiösen Gespräch Beachtung. Inwieweit Jesu Tempelkritik jedoch einer Gerichtsprophetie und einer Abrogation des Tempelkults gleichkommt, wird weiter diskutiert werden müssen. Auch sonst können die akribischen Einzelanalysen nicht verbergen, dass manche Zuordnungen und Bestimmungen keineswegs zwingend sind. So ist es z. B. kaum entscheidbar, ob der titulus crucis historisches Faktum ist und ob Jesus im Prozess geschwiegen hat. Auch die Rekonstruktion der an Mk 16 orientierten Grabbesuchserzählung als Abschluss von PEG beinhaltet Unsicherheiten (vgl. nur die Literarkritik von H. Merklein, Mk 16,1–8 als Epilog des MkEv, der zwischen einer Grabbesuchserzählung ohne und mit Salbungsabsicht unterscheidet). Schließlich bleibt es eine offene Frage, ob das Paschafest als Ort der Gestaltwerdung der Passionsmemoria vom Autor nicht übergewichtet wird. Als eine nur einmal jährlich stattfindende Feier wird sie für die Stabilisierung der Jesusmemoria eine wichtige, aber nicht unbedingt zentrale Rolle gespielt haben.

Geschichte und Theologie der Passionserzählungen
Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament
Tübingen: Mohr Siebeck Verlag. 2022
906 Seiten
209,00 €
ISBN 978.3-16-161610-5

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