Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Mouhanad Khorchide: Gottes falsche Anwälte

„Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben“. Wie die beiden Zeilen aus Herrmann Hesses Gedicht „Stufen“ zeigt, scheint es eine Konstante im Menschen zu geben, die dazu führt, Anfänge zu idealisieren, vor allem, wenn man die Anfänge nicht selbst erlebt hat und aus einer bestimmten historischen Ferne auf sie schaut. Dann ist immer von der „guten alten Zeit“ die Rede, in der alles besser und schöner war als in der Gegenwart. Letztendlich können Anfänge zu ungeheuer großen Projektionsflächen werden, in denen alles das hineinreflektiert wird, was man in der Gegenwart schmerzlich zu vermissen meint. Dieser Befund der Idealisierung des Anfangs trifft besonders auf Religionen und ihre sogenannten Stifter zu.

Die nachfolgende historische Entwicklung wird dann oft als eine Geschichte des Abfalls und der Pejorisierung gedeutet, der man nur entgegenwirken kann, wenn man zur Quelle zurückkehrt. Dabei wird aber zu oft übersehen, dass die geschichtliche Entfaltung und der Fortschritt einer Gesellschaft oder Religion eine Reaktion auf Prozesse, Kontingenzen und Dynamiken sind, die im Anfang noch gar nicht vorhanden waren und reflektiert werden konnten. Zugleich wird aber auch zu oft übersehen, dass Geschichte kein monokausaler Prozess ist, sondern höchst ambivalent und ambigue.

Dieses Präludium zur Rezension von Mouhanad Khorchides Buch „Gottes falsche Anwälte – Der Verrat am Islam“ ist eine Reaktion auf die Grundthese des Werks, die lautet: Der Islam, wie er uns gegenwärtig begegnet, ist eine korrumpierte Version seiner ursprünglichen Intention. Schon relativ früh nach Mohammads Tod, spätestens aber nach der Ermordung des vierten rechtgeleiteten Kalifs Ali, ist der Islam zuerst von der herrschenden Dynastie der Abbasiden und vor allem von den darauf folgenden Umayyaden zur Herrschaftsideologie umgeformt worden. Der ursprüngliche Islam, wie Mohammad ihn verkündigt hatte, wollte im Namen der Barmherzigkeit und der Liebe Gottes die Befreiung der Menschen aus äußeren und inneren gesellschaftlichen, sozialen und wirtschaftlichen Zwängen. Von daher sind der Koran und die Verkündigung Mohammads als Befreiungstheologie zu werten.

Gegen diese Auffassung wandten sich die Herrscher der oben erwähnten Dynastien, die folgsame Untertanen wollten und keine Menschen, die selbstbestimmt und aufgeklärt leben. Im Sinne einer prästabilierten Harmonie, die sich im Okzident strukturanalog als die Verbindung von Thron und Altar entwickelte, stützten sich weltliche und geistliche Obrigkeit gegenseitig ab: Weltliche Herrschaft wurde theologisch legitimiert, während die geistliche unter dem Schutz der Regierenden stand.

Khorchide beschreibt in seinem Buch sehr detailliert, wie unter diesen historischen Bedingungen das Offenbarungsmodell von einem kommunikativen zu einem instruktionstheoretischen umgedeutet und Offenbarung immer mehr als wortwörtliche göttliche Handlungsanweisungen verstanden wurden. In diesem Prozess wurde der Islam im Sinne Michel Foucaults zur Pastoralmacht, die Unterwerfungsstrukturen und Disziplinierungsmethoden generierte, der sich die Gläubigen beugen mussten. Diese wirkten durch Erziehung als „kapillare Mächte“ (M. Foucault) in die Menschen hinein, so dass sie weder kognitiv noch emotional kaum in der Lage waren, sich davon zu distanzieren. Wer es dennoch versuchte, erfuhr eine Vielzahl an Exklusionsmechanismen bis hin zur Tötung durch die Staatsmacht. Khorchide behauptet, dass diese korrumpierte Version des Islam bis heute wirksam ist und sich gegenwärtig vor allem im sogenannten „Politischen Islam“ zeigt.

„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ Dieser 3. und 4. Vers aus Hölderlins Hymne „Patmos“ weist auf Khorchides Ausweg aus der aufgezeigten Entwicklung des Islam von einer Befreiungstheologie zu einer Herrschaftsideologie. Der islamische Theologe plädiert dafür, wieder auf die ursprüngliche Intention des Korans und von Mohammads Verkündigung zu rekurrieren und in die Gegenwart zu übersetzen. Der Mensch, so Khorchides These, steht dabei im Mittelpunkt, denn Gott will, weil sein Wesen Liebe und Barmherzigkeit ist, dass es den Menschen gut geht und sie sich selbst verwirklichen können. Von daher hat der Islam für die Menschen eine dienende Funktion, die sie aus allen inneren und äußeren Zwängen befreit. Der Islam hat deshalb auch kein Lehramt, sondern ist, weil er immer den je einzelnen Menschen im Fokus hat, plural, divers und offen. Im Endeffekt entwickelt der islamische Theologe im Sinne von Rudolf Englert eine „sapientale Theologie“, die spirituell und kerygmatisch angelegt ist und in der durchaus Anklänge zu christlichen Pendants wie z.B. Anselm Grün oder Richard Rohr zu finden sind.

Das Buch „Gottes falsche Anwälte“ hat eine breite mediale, politische und wissenschaftliche Resonanz erfahren. Vielfach wurde es hochgelobt, weil es, so die oft geäußerte Auffassung, einen aufgeklärten und liberalen Islam zeigt, der mit den europäischen Traditionen der Moderne und Post- bzw. Nachmoderne kompatibel ist. Dem islamischen Theologen wurden in den Feuilletons diverser Zeitungen und Sender viel Zeit und Raum gewährt, um seine Thesen auszuführen.

Auf der anderen Seite gab es aber auf Seiten der islamwissenschaftlichen Fachwelt viel Kritik, wobei die von Prof. Dr. Thomas Bauer, Arabist an der Universität Münster, herausragt. Er weist zu Recht auf ein Paradoxon in Khorchides Buch hin: Auf der einen Seite beklagt der islamische Theologe, dass die geschichtliche Entwicklung des Islams die ihm innewohnende Pluralität und Diversität durch eine monokausale Herrschaftsideologie zerstört hat. Auf der anderen Seite argumentiert aber Khorchide ebenso monokausal, weil er die vielen Gegenbewegungen und theologischen Schulen ausblendet, die sich gegen diese Entwicklung gestemmt haben. Damit verweist Bauer genau auf den blinden Fleck des Buches: Es wendet sich gegen eine einseitige Interpretation des Islams, nimmt aber zugleich die Ambiguitäten und Komplexität der islamischen Geschichte und Theologie nicht wahr.

Ebenso wird die Idealisierung des Anfangs, wie sie schon am Beginn der Rezension beschrieben wurde, nicht kritisch hinterfragt. Auch für Khorchide ist der Beginn des Islams eine Projektionsfläche der Sehnsüchte und von all dem, was er vermisst. Die nachfolgende Geschichte dann als Abfall vom Ideal zu interpretieren, ist eigentlich müßig. Diese Versuchung ist auch im christlichen Kontext zu finden und führt letztendlich nur zu Frustrationen und gegenseitigen Vorwürfen, den guten Intentionen des Anfangs nicht gerecht zu werden.

Zu Recht macht Khorchide auf die Urversuchung jeder Religion aufmerksam: Sich mit den Herrschenden zu verbinden, um Macht über die Herzen und Köpfe der Gläubigen zu erlangen. Aber ob diese Entwicklung wirklich fast ohne Widerspruch geschah, ist jedenfalls für Thomas Bauer sehr umstritten.

Letztendlich ist Khorchides Entwurf einer islamischen sapientalen Theologie zum einen unterkomplex und zum anderen auch paradox. Der fast schon gebetsmühlenartige Verweis auf die Liebe und Barmherzigkeit Gottes entlässt ein „religiöses Trainingsprogramm“ (Peter Sloterdijk) aus sich, das die Gläubigen zu „Glaubensathleten“ macht, das Anspruch auf Unfehlbarkeit erhebt und ebenso die Gläubigen bestimmten Annahmen und Disziplinierungstechniken unterwirft, die im Hinblick auf die geschichtliche Entwicklung des Islams als Herrschaftsideologie kritisiert wurden. Im Endeffekt bedeutet es in überspitzter Formulierung: Wer nicht genug an sich arbeitet und sich dem spirituellen Programm widmet, das Khorchide entwickelt hat, kommt nicht aus der Fremdbestimmung heraus und bleibt in dem „Verblendungszusammenhang“ (Theodor W. Adorno) gefangen. Das komplexe gnadentheologische Verhältnis von Gott und Mensch, das in vielen Ansätzen der islamischen Theologie eine Rolle spielt und einen sehr realistischen Blick auf den Menschen wirft, der oft trotz vieler gut gemeinter Vorsätze scheitert und daher um göttliche Hilfe bittet, kommt dabei leider nicht in den Blick.

Positiv zu erwähnen ist das Literaturverzeichnis sowie der Anmerkungsapparat, der die Übersicht vor allem über die verwendete Originalliteratur sehr erleichtert. Auf der anderen Seite hätte ein hilfreiches Lektorat die vielen Wiederholungen straffen und damit die Seitenzahl vermindern können, was der Qualität keinen Abbruch getan hätte. Zum Schluss sei Folgendes gesagt: Mouhanad Khorchide hat für die islamische Theologie in Deutschland und darüber hinaus Großartiges vollbracht. Sein Ansatz ist innovativ, dialogorientiert und im positiven Sinne diskursgenerativ, und zwar über die islamische Theologie hinaus. Von daher soll diese Rezension keineswegs despektierlich sein, sondern orientiert sich an den hohen Qualitätsstandards, die der islamische Theologe selbst gesetzt hat. Und dabei fällt die Diskrepanz zwischen seinen vorherigen Werken und diesem Buch auf, die sich vor allem darin zeigt, dass nur sehr wenig ausgewogen und differenziert argumentiert wird. Vielleicht ist es ja möglich, dass der islamische Theologe die Anregungen seiner Kritiker aufnimmt und in einer Neuauflage von „Gottes falsche Anwälte“ produktiv verarbeitet. Auf dieses Buch könnte man sehr gespannt sein.

Der Verrat am Islam
Freiburg: Herder Verlag. 2020
256 Seiten
22,00 €
ISBN 978-3-451-38671-8

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