Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Myriam Revault d’Allonnes: Brüchige Wahrheit

Seit dem Ausgang der Brexit-Kampagne in England und der Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der USA bilden die Ausdrücke „fake news“ und „alternative facts“ eine unschöne Bereicherung unseres politischen Vokabulars. 2016 hat das Oxford Dictionary „post-truth“ zum Wort des Jahres gekürt. Eine Einordnung und Klärung unternimmt die politische Philosophin Myriam Revault d’Allonnes in ihrer neuesten, 2018 in Frankreich erschienenen Schrift „Brüchige Wahrheit“. Für die Beantwortung ihrer Fragestellung „Was beeinträchtigt die Postwahrheit?“ (12) – gemeint ist wohl die Herausbildung der Postwahrheit – rekurriert sie auf Platon und Aristoteles, auf Michel Foucault und Paul Ricoeur, vornehmlich aber auf Hannah Arendt. Lassen wir die gelehrten Ausführungen bei Seite und konzentrieren uns ganz auf den Kern des Gedankengangs.

Die Rede von Wahrheit im Kontext von Philosophie und Wissenschaft ist zu unterscheiden von der im Zusammenhang der kontingenten Gestaltung eines politischen Gemeinwesens. Das Verhältnis von Wahrheit und Politik war schon immer prekär. Wer aber die Sphäre der Politik mit Lüge identifiziert, entzieht diesen wesentlichen Bereich menschlichen Lebens von vornherein der Vernunft. Vielmehr streiten in öffentlichen Debatten plurale, unterschiedlich begründete politische Überzeugungen miteinander und setzen dazu rhetorische Mittel ein – die freilich von manchen Akteuren genutzt werden, um mittels Lüge zu täuschen. Totalitäre Systeme machen systematischen Gebrauch von der Lüge, indem sie die Wirklichkeit durch eine mehr oder weniger kohärente Ideologie umgestalten; die Wahrheit bekunden dann nur noch Dissidenten. Auch demokratische Systeme sind anfällig für die Lüge, um beispielsweise unangenehme Wahrheiten zu vertuschen – was exemplarisch die mehrjährige Täuschung durch die US-Regierung über den Vietnam-Krieg („Pentagon Papers“) belegt. Was aber bedeutet die derzeitige Rede von „post-truth“ in demokratischen Staaten?

Über die aktuellen Zusammenhänge finden sich im Buch leider nur spärliche Hinweise: Die öffentliche Debatte um Freiheit, Sicherheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Wachstum etc. sei derart aufgeladen, dass sie Propaganda und Manipulation Tür und Tor öffnet. Hinzu komme die verbreitete Haltung eines „anything goes“ – und, lässt sich ergänzen, die damit verbundene Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen. Für die „post-truth“ ist nun charakteristisch, dass sie an subjektive Befindlichkeit, an Gefühle und persönliche Überzeugungen appelliert. Auf diesem Hintergrund geschieht dann das, was die Verfasserin für ausschlaggebend hält: Aus „Tatsachenwahrheiten“ – historischen oder sozialen Ereignissen, die sich so und so zugetragen haben, aber anders hätten ausfallen können – werden Meinungen. Durchdiese Transformationwird der Unterschied zwischen wahr – durch Tatsachen fundierte Meinungen – und falsch – nicht auf Tatschen gestützten Meinungen – verwischt. Hier hat die Rede von „alternative facts“ ihren Ort: Bei der Amtseinführung Barak Obamas waren mehr Menschen anwesend als bei der Trumps, oder – alternatives Faktum – bei der Amtseinführung Trumps waren mehr als bei der Obamas zugegen. Die Folge: Fakten verlieren ihre Evidenz, Meinung steht gegen Meinung. Ein solches „Doublethink“ (George Orwell), so Myriam Revault d’Allonnes‘ These, bringt Menschen „dazu, etwas glauben zu können, von dem sie wissen, dass es falsch ist, ohne deshalb Lügner oder Zyniker zu sein“ (122). Die epidemische Verbreitung derartiger kognitiver Dissonanzen hat gravierende Folgen: Die Suspendierung der Differenz von wahr/falsch führt zum „Ruin der Urteilskraft“ (124), die ja zur Gestaltung des Gemeinwesens unabdingbar ist, und dadurch zu einem „Weltverlust“ (123). Bedauerlicherweise wird die Rolle der sogenannten Sozialen Medien bei der geradezu viralen Verbreitung alternativer Fakten nicht eigens bedacht.

Die Corona-Pandemie ist ein gesellschaftliches Experimentierfeld, an dem sich der von der Verfasserin aufgezeigte Zusammenhang von „post-truth“ und „alternative facts“ bestätigen lässt: Auf der Grundlage ihrer Forschung konstatieren anerkannte Virologen die enorme Ansteckungsgefahr von Covid-19, was die verantwortlichen Politiker zu wissenschaftlich fundierten, massiv in die Freiheitsrechte eingreifenden Maßnahmen veranlasst hat. Gegen die Fakten wird von einer Minderheit behauptet, die Ansteckungsgefahr sei nicht gefährlicher als die bei anderen Infektionskrankheiten – so dass nun in der Öffentlichkeit entgegengesetzte Meinungen nebeneinanderstehen. Ja, diese Situation steht für eine „Brüchige Wahrheit“. Freilich zeigt die Pandemie auch, dass die meisten Menschen sehr wohl von ihrer Urteilskraft Gebrauch machen und zwischen einer richtigen – auf Fakten gestützten – und einer falschen – die Fakten bestreitenden – Überzeugung zu unterscheiden wissen. Auf Seiten der Wissenschaft sind es verständlich kommunizierte Forschungsergebnisse, auf Seiten der Politik gut begründete Maßnahmen, die der „post-truth“ das Überleben erschweren. Dazu können auch die christlichen Kirchen beitragen, wenn sie gegen ein „anything goes“ die eigenen Wahrheitsansprüche einleuchtend und verständlich darlegen.

Zur Auflösung von Gewissheiten in demokratischen Gesellschaften
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt
Hamburg: Hamburger Edition. 2019
128 Seiten
18,00 €ISBN 978-86854-337-7

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