Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Nicolai Sinai: Der Koran

Eine Einführung

Der Koran (Rezitation) gilt dem gläubigen Muslim als das unmittelbare Wort Gottes. Er ist das Zentrum der islamischen Religion und Quelle ihrer Spiritualität. Nach islamischer Tradition vollendete der Kalif `Uthmān (644-656), der dritte Nachfolger des Propheten Muhammad, die Sammlung der Aufzeichnung aller Offenbarungstexte. Die frühe Redaktion des Korans hat zu einer weitgehend einheitlichen Überlieferung des Textes geführt. Die Anordnung der einzelnen Verse (arabisch Suren) erfolgte weder nach der chronischen Reihenfolge ihrer Offenbarung, noch ergibt sie einen fortlaufenden, zusammenhängenden Text. Die Grobeinteilung der Offenbarungstexte unterscheidet zwischen mekkanischen Suren, die vor der Hiğra, und medinensischen Suren, die nach der Hiğra, also zwischen 622 und 632 geoffenbart worden sein sollen. 

Für Nicht-Muslime ist der Koran oft schwer zugänglich. Nicolai Sinai hat nun eine gut verständliche Einführung in die heilige Schrift der Muslime vorgelegt. Er zeigt, in welchem kulturellen Umfeld der Islam entstanden ist, und geht auf wesentliche Inhalte und literarische Formen des Korans ein. Besonders beachtenswert sind seine Anmerkungen zur historisch-kritischen Koranforschung. Islamischer Überzeugung zufolge enthält der Koran die Verkündigungen, die der Prophet Muhammad im frühen siebten Jahrhundert in den westarabischen Städten Mekka und Medina vorgetragen hat. Sinai hinterfragt die traditionelle Sichtweise der Koranentstehung anhand islamischer Quellen, die über den Propheten Muhammad berichten. Er nutzt dabei nicht nur die bekannte Prophetenbiographie von Ibn Ishāq (gest. 767/768), sondern verweist auf griechische, syrische und armenische Quellen, die den islamischen Propheten bezeugen. So spreche ein griechischer Text aus den 630er Jahren von einem Propheten, der mit den Sarazenen erschienen sei. Eine syrische Chronik, erfahren wir weiter, berichte von einer Schlacht zwischen den Römern und den Arabern Muhammads, die sich im Februar 660 ereignet habe. Aufgrund der Quellenlage, so Sinai, gebe es kaum Anlass, an der historischen Existenz Muhammads zu zweifeln. 

Doch wie steht es um die Datierung des Korantexts selbst? Hier führt Sinai die Ergebnisse einer Radiokarbonuntersuchung an, die die traditionelle Datierung des Korans in die erste Hälfte des siebten Jahrhunderts bestätige. Die arabische Halbinsel, weiß Sinai, war um 600 vorwiegend durch nicht-jüdische und nicht-christliche Bräuche und Kulte geprägt. Sinai stützt sich bei seiner Beschreibung der religiösen Praxis im alten Arabien im Wesentlichen auf Ergebnisse der Arbeiten von Julius Wellhausen und Ludwig Ammann, die er mit koranischen Aussagen konfrontiert. Überraschend sei, so Sinai, dass die sogenannten „Ungläubigen“ den Gedanken eines allmächtigen Schöpfergottes namens Allāh (wörtlich „die Gottheit“) akzeptierten. Zudem ließen sich manche Koranverse dahingehend verstehen, dass Muhammads „ungläubige“ Gegner Allāh durchaus als Schutzgottheit Mekkas anerkannten. Die „Ungläubigen“ unterscheide von Muhammad und seinen Anhängern, dass sie Allāh noch weitere Gottheiten beigesellten. Bereits die frühen Verkündigungstexte (mekkanische Suren) bezeugten einen strikten Monotheismus und wendeten sich polemisch gegen die „Ungläubigen“ und „Beigeseller“. Weitere Leitgedanken der mekkanischen Suren seien die Gerichtsverkündigung sowie Jenseitsschilderungen. Kernthemen der späteren medinensischen Suren seien das koranische Recht und die Auseinandersetzung mit Juden und Christen. Sinai zeigt die beachtliche Bandbreite von Positionen gegenüber Juden und Christen. Zwar fordere der Koran weder von den Juden noch den Christen eine Aufgabe ihrer Religion, mute ihnen jedoch zu, Muhammad als einen genuinen Propheten zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund fragt Sinai, welche politischen und gesellschaftlichen Prinzipien sich aus dem Koran gewinnen ließen und ob koranische Normen und Rechtssetzungen in heutiger Zeit überhaupt noch anwendbar seien. 

Sinai widerspricht der Auffassung, eine historische Koranlektüre sei mit dem Islam nicht vereinbar, da der Koran als wörtliche Gottesrede zu verstehen sei. Dabei stützt er sich auf Nașr Hāmid Abū Zaids (1943-2010) literarisch-wissenschaftliche Koranexegese sowie auf Arbeiten des Islamwissenschaftlers Fazlur Rahman (1919-1988). Eine historisch-kritische Textauslegung, so Sinai, frage danach, was eine bestimmte Koranstelle in ihrem ursprünglichen Entstehungsmilieu bedeutet habe. In einem zweiten Schritt wäre dann die Geltungsfrage zu stellen, also zu problematisieren, inwieweit die Deutungsmöglichkeiten auch heute noch Verbindlichkeit beanspruchen könnten. Die Fragen, die sich aus der Praxis einer historisch-kritischen Koranauslegung ergäben, resümiert Sinai, könnten nicht seitens der Wissenschaft beantwortet werden, sondern sie sollten vielmehr Gegenstand innerislamischer Debatten sein. 

Stuttgart: Reclam Verlag. 2017
140 Seiten
8,95 €
ISBN 978-3-15-020481-8

 

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