Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Niklaus Brantschen: Gottlos beten

Um es gleich vorwegzusagen: Der Titel „Gottlos beten“ und die Verlagsankündigung, es gehe in diesem Buch um die Frage, ob ein Atheist meditieren könne, sind irreführend. Denn um Betrachtungen darüber, wie Nichtgläubige die Leerstelle „Gott“ in ihrem Leben ausfüllen oder ob überhaupt jemand zu einer Gebetssprache finden kann, wenn das göttliche Gegenüber hartnäckig zu schweigen scheint, geht es Niklaus Brantschen, Jesuit und Zen-Meister, gerade nicht. Vielmehr erinnert seine spirituelle Wegsuche – so lautet der treffende Untertitel – an das berühmte Wort Karl Rahners: „Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“

Auf der Suche nach diesen Erfahrungswegen befragt Brantschen alte Muster, Riten, Rituale und Lebensformen aus östlicher Weisheit und christlicher Tradition und beschreibt Spiritualität als einen radikal offenen Vollzug, der mystischen Charakter habe und allen Menschen möglich sei. In der Mitte des schmalen, aber unglaublich dichten Buches steht die befreiende Einsicht: „Die Spiritualität, die ich meine, darf nicht in der Innerlichkeit stecken bleiben, sondern muss sich äußern. Wer hofft, an der Welt vorbei zu sich selbst (und zu Gott) zu gelangen, wird nie zu sich finden, denn Selbstfindung und Selbstfindung gehen zusammen wie Einatmen und Ausatmen. Wer nur einatmet, erstickt, wer nur ausatmet, verliert sich.“ Es sei heilsam, dem Atem zu lauschen, dem Rhythmus des Herzschlags zuzuhören und immer wieder in diese Ruhe der Monotonie zu finden: „Warum machst du es so kompliziert? Jede geistliche Übung ist einfach und wiederholbar. Hab keine Angst vor der Wiederholung.“

Der Autor formuliert in einem einladenden und versöhnlichen Stil, der an die harmonikale Architektur des Lassalle-Hauses in Bad Schönbrunn (Schweiz) denken lässt, wovon das Titelbild einen Eindruck gibt: geerdet, weltoffen, lichtdurchflutet, interreligiös und interkulturell. Die spirituelle Wegsuche folgt nicht der Logik des Ausschlusses, sondern wählt das weiter gefasste Sowohl-als-auch: „Echte Spiritualität erschöpft sich nicht im Privaten. Sie mischt sich ein und überwindet das heillose Entweder-oder-Schema. Also nicht draußen oder drinnen, sondern draußen und drinnen, nicht Ich oder die Welt, sondern Ich und die Welt, nicht Kontemplation oder Aktion, sondern Kontemplation und Aktion!“ Ebenso gehören für Brantschen Gemeinschaft und Alleinsein zusammen: „Es braucht mindestens zwei oder drei, die sich gegenseitig im Glauben stärken und miteinander auf dem Weg sind: allein und gemeinsam. Es ist wie beim Musizieren: Wer nicht Solo spielen kann oder will, hüte sich vor Duetten und Quartetten.“

Das Buch ist sehr sorgfältig gegliedert. Fünf Teilen variieren das theologische Axiom „lex orandi, lex credendi“, das eine Entsprechung zwischen Beten und Glauben sieht, in eine be-weg-liche Lebenskunst: Von der Kunst zu beten – ars orandi (Teil 1), zu glauben – ars credendi (Teil 2), zu leben – ars vivendi (Teil 3) zu sterben – ars moriendi (Teil 4) und zu lieben – ars amandi (Teil 5). Jedes der 26 Kapitel schließt mit einer kurzen Reflexion, die den nächsten Schritt vorbereitet. Die Gedankenführung öffnet weite Resonanzräume und wirkt durch eine große sprachliche Klarheit wohltuend beruhigend. Ohne Pathos fallen tiefe, stille Sätze: „Das Sterben als Prozess endgültigen Loslassens und endgültiger Hingabe ist eine eminent spirituelle Angelegenheit und will eingeübt sein. Am Ende bleibt nichts außer der Liebe.“ Brantschen teilt seine reiche Lebenserfahrung und Weisheit nicht belehrend, sondern mit großem Interesse am Gegenüber – es ist, als würde man während des Lesens in einen freundschaftlichen Dialog mit einem vertrauten Weggefährten eintreten. Eines der schönsten Kapitel ist die kurze Betrachtung über Maria, der Mutter Jesu, und die Gestalt der Kanzeon, die im Buddhismus grenzenloses Erbarmen verkörpert. „Liebe ohne Grenzen, die sich aber nicht in vager Unbestimmtheit verflüchtigt, sondern sich zugleich im ganz konkreten und alltäglichen Leben bewährt. Diese Liebe hat einen Ort, an dem sie wohnt, an dem sie ‚residiert‘.“ Es gehöre zum Wesen der Liebe, Grenzen zu überschreiten, sagt Brantschen, von Maria-Kanzeon könne man lernen, weltumspannendes Mitgefühl zu empfinden und universale Barmherzigkeit zu leben, statt gleich Synkretismus zu wittern.

Wie gesagt, der Titel ist irreführend. Das Buch handelt nicht von einem Beten ohne Gott, es beschreibt vielmehr ein Sich-Öffnen auf Gott hin, das erlösende Loslassen von Fixierungen und Vorstellungen und das Freiwerden von Erwartungen und einem spirituellen Leistungs- und Machbarkeitsdruck. „Der Mensch ist ein suchendes und fragendes Wesen. Er sehnt sich nach dem ‚Großen Ganzen‘, nach dem, was älter ist als die Zeit und jünger als der Tag.“ Diese Suchbewegung wird auf knapp 120 Seiten Schritt für Schritt meditiert und verkostet, und in dieser Weise sollte man auch das Buch lesen. Man wird es ganz gewiss mehrmals in die Hand nehmen.

Eine spirituelle Wegsuche
Ostfildern: Patmos Verlag. (2021) 32021
128 Seiten.
19,00 €
ISBN 978-3-8436-1335-4

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