Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Patrick Roth: Gottesquartett

Patrick Roth, geboren 1953 in Freiburg, ist den Lesern religiös inspirierter Gegenwartsliteratur durch die Novellen seiner Christustrilogie und das Hauptwerk „Sunrise. Das Buch Joseph“ längst bekannt, literarisch interessierten Cineasten durch „Starlite Terrace“, „Meine Reise zu Chaplin“ und „Die amerikanische Fahrt“. In allen Werken verweben sich vier Jahrzehnte biographischer Erfahrungen an den Filmsets von Hollywood, Settings und Personen des Neuen und Alten Testamentes sowie authentische Traumbilder zu schillernden Mustern eines solitären Oeuvres, in dem eine drehbuchartige Dynamik unmittelbar in ihren Bann zieht.

In „Gottesquartett“ ereignet sich die Rahmenerzählung an vier Tagen, die die einzelnen Hauptkapitel jeweils genesisartig überschreiben: „Erster Tag“, „Zweiter Tag“, „Dritter Tag“, „Vierter Tag“. Nachdem der Erzähler – ein Schriftsteller, der unschwer als der Autor selbst zu erkennen ist – anlässlich der Trauerfeier seiner jüngst verstorbenen Freundin und ehemaligen Therapeutin von Deutschland nach Kalifornien gereist ist, verhindern plötzlich nahende Flächenbrände die Gedenkveranstaltung. Der Protagonist bleibt notgedrungen für vier Tage im Appartement seines Freundes und Übersetzers Wyatt und seiner Frau Vera, die eine weitere gemeinsame Freundin, die Schauspielerin Ava, zu Gast haben. Die vier Freunde beschließen, eine alte Tradition gemeinsamer Lektüre-Abende wieder aufleben zu lassen und sich die Trauerrede sowie die Geschichten, die der Erzähler Dianne noch zu Lebzeiten gewidmet hat, auf Wyatts Terrasse im kalifornischen Marina del Rey gegenseitig vorzulesen. Mit seiner verbindenden Lage zwischen Außen- und Innenbereich, offenem Meerblick und den Räumen des Appartements symbolisiert dieser Ort zugleich ein Kontinuum zwischen äußeren Ereignissen und inneren Bildern. Die Naturkatastrophe bewirkt einen Rückzug in den privaten Kreis des „Stimmenquartetts“ der Freunde und so nolens volens eine hohe Konzentration auf die nun reihum vorgetragenen Geschichten. In einer leichten Spannung zum lockeren Ambiente enthüllt sich in den gelesenen Texten und Gesprächen die spezifisch mythopoetische (Michael Braun) Betrachtungsweise, zu der Dianne den Erzähler mit einem radikalen Perspektivwechsel inspiriert hatte. Erzählung reiht sich an Erzählung, Traumwiedergaben und -deutungen, fiktive Legenden, Filmsequenzen, Bibelauslegungen, Erinnerungen und poetische Sentenzen werden umfasst von den Gesprächen der Freunde auf der Ebene der Rahmenhandlung. Die teils collageartig anmutende Erzähltechnik verwebt die Fülle feiner Erzählfäden zu tiefgründigen Mustern eines kunstvollen Geflechts. Trotz des irisierenden Eindrucks ist der Gesprächsverlauf in seinem Streben nach Erkenntnis einer sokratischen Gesprächsführung bei Platon vergleichbar. Zudem: Wie im „Symposion“ die weise Frau Diotima alle Gedankengänge überwölbt und den rational-philosophischen Sokrates in das Arkanum der Liebe einweiht, so scheint Diannes Geist der Heilung das „Gottesquartett“ zu durchdringen. Ihre am Schluss vom Erzähler dramatisch erlebte Präsenz macht die „Requiem“-Novelle zum Dokument transzendierender Lebendigkeit.

Mit den „Erzählungen eines Ausgewanderten“ erlaubt Roth seinen Lesern den Blick auf die „Vierung“ seines Schreibtisches zwischen Arbeit und Muße, Bewusstseinsprozessen und unbewusstem Material. Vielfältige Bezüge zu früheren Werken und offene Reflexionen auf geistige Grundlagen und biographische Einflüsse seiner schriftstellerischen Arbeit erschließen das Gesamtwerk neu. Roth legt hier ein persönliches Zeugnis über das Movens seines literarischen Schaffens ab: Träume bilden dabei als objektive Botschaften aus dem Unbewussten den kreativen Kern und das prophetische Potential. Davon handeln Roth zufolge auch die biblischen Schriften: Archetypische „Fühler“ befähigen die Psyche zu einer universal-kartographischen Orientierung in einem seelisch erfahrbaren Universum und zum vitalen Kontakt mit dem Göttlichen.

Hier, in „Gottesquartett“, spielen insbesondere Feuerträume eine herausragende Rolle; Feuer ist auch auf der Ebene der erzählten Alltagsrealität unter den leitmotivisch wiederkehrenden Bildern das durchdringende Grundmotiv und, angesichts der um die Stadt tobenden Brände, zugleich der Horizont, vor dem sich die Handlung ereignet. Ein erstes Traumbild zeigt eine Kathedrale, deren Inneres zu einem Wald geworden ist und durch einen hochaktiven Funken in Brand gesetzt wird; ihr Dach birst. Der reflektierende Erzähler assoziiert die brennende Notre Dame, deutet aber: „Das ehrwürdig alte Gefäß unseres Glaubens wäre ins Unbewusste gefallen, sein Inneres zur Wildnis geworden“ (14); das geborstene Dach gebe nun den Blick frei auf den offenen Himmel, der ein „neues Sehen und Gesehenwerden“ ermöglichen könnte. Auch die im Finale verdichtete Feuervision eines Kometeneinschlages war tatsächlich Inhalt eines Traumes, und zwar, wie der Epilog des Autors offenbart, in Koinzidenz zum ersten bekannten Fall eines an Covid 19 Erkrankten im November 2019.

Dem kreativen Prinzip des Sich-Einlassens auf die traumhaft auftauchenden, nicht konstruierten Bilder entspricht rezipierend, das Eigene aus dem Dunkel des Unbewussten lesend hervorrufen zu lassen. Genauso geht der Erzähler mit den Inhalten der Bibel um: Die vier Kernerzählungen „Beherbergung des Göttlichen“, „Abrahams Erbarmen“, „Simsons Quell“ und „Die Verwaisten“, bilden mit ihren Nacherzählungen und Wiederbelebungen am dritten und vierten Tag das biblische Herz der kalifornischen Leseabende. Eine hilfreiche Übersicht über diese Wiedergaben der heiligen Schriften mit ihren komplexen Weiterungen findet sich unter https://de.m.wikipedia.org/wiki/Gottesquartett.

Erzählungen eines Ausgewanderten
Freiburg Herder Verlag. 2020
224 Seiten
22,00 Euro
ISBN 978-3-451-38809-5

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