Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Handke: Das zweite Schwert

Der „Maigeschichte“ von Peter Handke ist ein Bibelzitat aus dem Lukasevangelium (Lk 22,36-38) vorangestellt, das im Kontext der Passionsgeschichte Jesu überliefert und mit dem eschatologischen Verweis überschrieben ist: „Die Stunde der endzeitlichen Entscheidung". Jesu Anweisung an seine Jünger, für den Erlös eines Mantels ein Schwert zu kaufen, mag bei seinen Gefolgsleuten die irrige Annahme erhärten, dass der Errichtung des messianischen Reiches eine mit Waffen auszutragende Entscheidungsschlacht vorangehen werde. Als die Jünger Jesus darauf hinweisen, dass sie im Besitz von zwei Schwertern seien, antwortet ihr Rabbi: „Genug davon!“ (Übersetzung: Jerusalemer Bibel, Freiburg 12. Aufl. 1985.) In der Einleitung zu Handkes Erzählung wird der Lukasvers mit den Worten: „Das genügt!" übersetzt und insofern Jesu versteckte Botschaft an die Jünger, dass seine Herrschaft nicht auf Gewalt basieren werde, unterschlagen.

Die „Maigeschichte“ ist in zwei Kapitel unterteilt: 1. Späte Rache, 2. Das zweite Schwert. Der Ich-Erzähler stellt sich selbst beim morgendlichen Betrachten seines Spiegelbildes vor: „Das also ist das Gesicht eines Rächers!" (11) Die Leser folgen seinem inneren Monolog, der assoziativ Wahrnehmungen aus seiner nächsten Umgebung unvermittelt nebeneinander stellt. Das dem Betrachter Zugefallene und höchst poetisch Beschriebene zeugt von der gesteigerten Wachheit eines zum Racheakt Entschlossenen. Warum Rache, für wen, an wem und womit?, fragen sich die Leser und erhalten jedoch erst im zweiten Teil der Erzählung den konkreten Hinweis. Der Erzähler beabsichtigt, für den Rufmord an seiner Mutter Rache zu nehmen. Eine Journalistin hatte die Mutter in einem Zeitungsartikel bezichtigt, 1938 mit anderen Bürgern aus der großen Donaumonarchie der Einverleibung des kleinen Landes in das „Deutsche Reich" zugejubelt zu haben. Dem Text wurde eine Photomontage mit dem vergrößerten Kopfbild der damals siebzehnjährigen Mutter beigefügt. Um Deutung bemüht, suchen manche Interpreten nach einem biographischen Verweis aus dem Leben des Schriftstellers. Doch diese Geschichte, in der es um Sprache geht, und dem, was sie wortmächtig vermag, wäre mit der Eingrenzung auf das Leben des Autors zu kurz gegriffen.

Die von Handke zugeschriebenen Erinnerungen des Ich-Erzählers an seine Mutter könnten ein Verständnis-Schlüssel sein; er berichtet: „Sie erzählte am Morgen, sie erzählte am Abend, sie erzählte in der Nacht." (70) Die Mutter schildert so liebreich von ihren im Zweiten Weltkrieg zwangsrekrutierten Brüdern, dass die zwei gefallenen Onkel dem Heranwachsenden leibhaftig vor Augen stehen. Das sich hier assoziativ einstellende Wort „Muttersprache" könnte zur Deutung von Handkes Erzählmotiv beitragen. Dann würde das Rachemotiv des Erzählers weniger der Rehabilitierung der Mutter als der von seiner Mutter erworbenen Sprache gelten. So verstanden verwiese der Autor auf die mit dem Missbrauch von Sprache einhergehenden geschändeten Beziehungen, welche im Akt der Rache gesühnt werden müssten. Dass mittels Sprache ein Beziehungskosmos erstellt wird, daran lässt Handkes Erzähler im Fortlauf seiner gesamten Geschichte teilhaben. Seine Schilderungen von Natur und Menschen entfalten einen Sog, in den man sich mit Lesegenuss hineinziehen lässt. In Anspielung auf Homers Odysee handelt die Geschichte von Ankunft und Wiederaufbruch des Erzählers. Die auch als Lebensreise zu verstehende Erzählhandlung ist Selbst- und Welt-Findung in der sprachlichen Wiedergabe von Natur- und Menschenbegegnungen.

Im ersten Teil der Geschichte gesteht der Erzähler durchaus persönliche Gewaltphantasien ein, die, ausgelöst durch unangenehme, nervende Lebensumstände, ihn zu Rachehandlungen hätten bewegen können. Im zweiten Teil jedoch gewinnt seine sensible Anteilnahme am Leben immer mehr Raum, so dass für diesen Part der Erzählung die Bezeichnung Pilgerfahrt zutreffender wäre. Immer wieder greift der Erzähler literarische Motive aus der Bibel auf. So wird der Heimkehrer in seiner Nachbarschaft zu einem Barbecue eingeladen. Aus zwei Feuerstellen steigen auf unterschiedliche Weisen Rauchfahnen hoch, die an die Brudermord-Story von Kain und Abel erinnern, die Geschichte eines Rachemordes aus Eifersucht. Das Ehepaar, beide Postboten, das den Erzähler in den sonst verschlossenen Garten ihres Ferienhauses einlädt, erinnert an die zwei Keruben-Engel, die als Türwächter des Paradieses fungieren. Das im Buch Genesis überlieferte Motiv des Apfels und der Schlange werden ebenfalls im Verlaufe der Erzählung aufgegriffen. Des Weiteren erwähnt der Erzähler auch die Geschichte des Propheten Elias, der als Rächer Jahwes gegen die Baals-Priester kämpft. Handke verortet die Erzählung nach Versailles, wo in einem Gutshof in der Nähe des Klosters Port-Royal-des-Champs die Messieurs de-Port-Royal die sogenannten Solitaires wohnten. Zu diesen gebildeten „Einsiedlern" gehörte auch Blaise Pascal, den der Erzähler namentlich erwähnt. In einem Traumgesicht von seiner Mutter bezieht er sich auf das von Blaise Pascal an seiner Nichte erlebte Heilungswunder bei deren Klosterbesuch in ebendiesem Pariser Vorort. Pascals Nichte litt an einem Augentumor. Ebenso sieht der Erzähler im Traum seine verstorbene Mutter mit einem verquollenen Auge: „Das Gesicht der Mutter im, nein, nach dem Tod alterslos und auf eine Weise lebendig wie nie zuvor. Es war sie, meine Mutter, und es war eine Fremde, eine furchtbare." (122)

Der Erzähler deutet bereits in diesem Traumerleben seine Entfremdung von dem Rache-nehmen-Müssen an. Und es geschieht tatsächlich das Wunder, dass der Racheakt am Ende nicht vollzogen wird. Die Fahrt nach Port-Royal-des-Champs, um die dort lebende Journalistin aufzusuchen, endet in einer Gaststätte am Ende zweier Bahnlinien. Auf dem abendlichen Fest, das dort stattfindet, begegnet der Erzähler Menschen wieder, die ihm tagsüber begegnet waren, in anderer Gestalt – und trotzdem dieselben. Der Gedanke an das biblisch überlieferte eschatologische Hochzeitsmahl, bei dem die Auferstandenen wieder zusammenfinden, legt sich nahe. Interessanterweise sieht der Erzähler auf dem Fernseher dieses Lokals während einer Debattenübertragung die Journalistin, an der er Rache nehmen wollte. „Und ganz plötzlich, wie Murmeln woanders hinrollen", entscheidet er: „Sie, die Übeltäterin, sie und ihresgleichen gehören nicht in die Geschichte, weder in diese noch sonst in eine! Es war darin kein Platz für sie. Und das war meine Rache. Und das genügte als Rache. Das war Rache genug." (156f) Handke bezieht sich mit seinem erlösten Erzähler auf das, was sprachwürdig ist. Im Hintergrund steht das Offenbarungserleben von Pascal, der dem biblisch tradierten, personalen Gott Abrahams begegnete und dies in seinem „Memorial" festhielt.

Handke gibt im verdeckten Bezug zur biblischen Tradition zu verstehen, dass vom Jenseitigen, Heiligen her die Heiligkeit der Sprache resuliert. Daher entwickelt sich diese Geschichte zur Heilsgeschichte, die analog zur Bibel mit einem Fest endet, bei dem die Erlösten mit sich und anderen versöhnt sein werden. Der fröhliche, vom Rachevorhaben befreite Erzähler bittet seine Tischnachbarin um einen Taschenspiegel, damit er wie anfangs sein Gesicht betrachten kann: „Ja, sieht so einer aus, dem die langersehnte Rache gelungen ist? Fröhlich schaute ich mich aus dem Spiegel an, fröhlich, wie ich mich kaum je erlebt hatte..." (157)

Eine Maigeschichte
Berlin: Suhrkamp Verlag (2020) 2021
158 Seiten
11,00 €
ISBN 978-3-518-47141-8

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