Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Handke: Mein Tag im anderen Land. Eine Dämonengeschichte

 

„In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe." Mit diesem Satz beginnt die „Dämonengeschichte“ von Peter Handke und fesselt den derart vertrauensvoll angesprochenen Leser mit sofort geweckter Neugier an der Lektüre. Und schon in den folgenden Zeilen irritiert der Ich-Erzähler mit der Aussage: „Die Geschichte hier: Ich habe sie in Fleisch und Blut erlebt, aber ich weiß von ihr allein vom Hörensagen.“ (9) Der Gedankenschluss liegt nahe, dass hier Einer erzählt, der phasenweise nicht bei sich selbst ist, an gespaltener Persönlichkeit leidet.

Durch den Erzählanfang verwirrt, findet der Leser beim Zurückblättern das vielleicht überlesene und der Geschichte vorangestellte Zitat des griechischen Lyrikers Pindar (5. Jh. v. Chr.): „Ich Idiot, ins Gemeinwesen gestellt." Pindar verfasste Oden auf Helden, die als Vorbilder dem sozialen Gedächtnis bewahrt sein sollten. Der Verweis auf den antiken Autor ist nicht nur als inhaltliche Lese-Orientierung zu verstehen, sondern liefert auch den Schlüssel für den formalen Aufbau der Geschichte, die sich in drei Teile gliedert: 1. Ode, 2. Antode (Gegenstrophe) und 3. Epode (Abgesang). Es wäre falsch anzunehmen, Handke habe in Verfremdung zu Pindars Oden einen Idioten zum Helden erhoben. Der Autor, einst Schüler eines humanistischen Gymnasiums, versteht mit Blick auf seine Geschichte unter dem griechischen Begriff „Idiotes“ eine Privatperson, einen Menschen, der nicht am sozialen Leben Anteil nimmt – im Gegensatz zum Zoon politikon, der aktiv das Gemeinwesen mitgestaltet.

Der Erzähler erfährt sich im ersten Teil der Geschichte nur durch die Schilderungen seiner Schwester als einen von Dämonen Getriebenen, der auf dem Weg durch den Ort gegen Bewohner und sich selbst wüste Beschimpfungen ausstößt. Die Menschen weichen dem Besessenen aus, der vor dem Ausbruch seiner Krankheit ein Obstgärtner war, Apfelbäume kultivierte und darüber sogar ein Buch geschrieben hatte. Der Apfel als Frucht des Sündenfalls verweist in diesem Erzählzusammenhang auf das Buch Genesis: Der einstmalige Gärtner, der nun gegen die gesamte Schöpfung wütet und sie mit Schmähreden überzieht, ist ein aus dem Garten Eden Vertriebener. Handke lässt den Besessenen außerhalb menschlicher Wohnstätten in Grabhöhlen eines aufgelassenen Friedhofs hausen und wird nur mittels regelmäßiger Versorgung durch seine Schwester am Leben gehalten. Mit dem Motiv des Wahnsinnigen, der nicht zu bändigen ist und in Grabhöhlen vegetiert, greift der Schriftsteller die neutestamentliche Erzählung des Besessenen von Gerasa auf (Mk 5,1-20). Der Wandlung des Erzählers von übernommenen Schilderungen seines Selbst durch die Schwester hin zur Ich-Perspektive geht eine Erschütterung voraus: „An dem fraglichen Tag sah die Schwester mich weinen, wie ich selbst in meiner Kindheit nie geweint hatte." (42). Auf das Weinen folgen Selbstverfluchungen und Todeswunsch. Die Heilung des Besessenen wird wie in der neutestamentlichen Erzählung durch einen Ortswechsel angezeigt. Der Erzähler und seine Schwester befinden sich am Ufer eines Sees, als gerade ein paar Männer ein Fischerboot an das Ufer ziehen (vgl. Mk 5,1). Analog zu biblischen Wundererzählungen betont Handke das Plötzliche einer Heilungsbegegnung ebenfalls durch Tempuswechsel, der den unerwarteten Einbruch der Wandlung unterstreicht: „Was ich dann sah und was mich, jetzt, und jetzt!, nach jahrelanger Fast-Bewußtlosigkeit, Schlag auf Schlag, wieder zu Bewußtsein brachte …, waren die Augen des einen Mannes. ... Und ich fühlte, nein ich wußte mich von diesen Augen angeblickt, wie ich noch keinmal von einem Menschen angeblickt worden war. Nicht allein ein Anblicken war das ... ein Zuschauen, ein rein mitgehendes, selbstlos teilnehmendes freundschaftliches." (45f.)

Handke schreibt dem Heiler des besessenen Erzählers, den er niemals Jesus oder Nazarener nennt, einen neuen Eigennamen zu. In Anlehnung an den für Jesus gebräuchlichen Titel des „Guten Hirten“, spricht der Erzähler vom „Guten Zuschauer" (46). Die Qualität seines Zuschauens ist ein urteilsfreies Wahrnehmen, das als „Hineinschauen und Hineinhören" (47) ein tiefes Verstehen meint. Auch die heilende Berührung lässt an biblische Vorlagen denken. Der „Gute Zuschauer" legt die Hand auf die Schulter des Erzählers, eine Geste der Vertrautheit, die in der Wortwahl seiner Begrüßung zum Ausdruck kommt: „Da bist du mir ja wieder mein Freund!" (49).

Wie in der biblischen Geschichte des Geraseners erfährt die Bitte des Geheilten, in der Gesellschaft seines Heilers dauerhaft bleiben zu dürfen, Ablehnung. Er wird in die Dekapolis, das „Zehn-Städte-Land“, gesandt; die Ortsangabe ist ebenfalls biblisch entlehnt und bezeichnet das unter griechischem Protektorat stehende Gebiet als heidnisches, fremdes, „anderes Land", wie im Buchtitel erwähnt. Metaphorisch ist das Übersetzen des Erzählers in das „andere Land" als Wechsel in eine neue Existenzweise zu deuten. Handke lässt mit tiefgründigem Witz den Geheilten in dem Boot zur Überfahrt – hier ist bezogen auf die griechische Mythologie an das Übersetzen auf dem Unterweltfluss Styx zu denken – einen Blutegel finden. Den diabolischen Widersacher – im Buch Genesis als Schlange vorgestellt – lässt Handke zu einem Blutegel schrumpfen, der sich dem Geheilten nicht mehr an die Ferse heften kann. Anstatt seinem Missionsauftrag nachzukommen und von seiner Heilungsbegegnung zu erzählen, überlässt sich der Ich-Erzähler im anderen Land zufälligen Begegnungen mit Fremden, deren Geschichten er sammelt und weitergibt.

Auffallend ist ein mit der personalen Veränderung des Erzählers einhergehender Wechsel in der erzählten Zeit: Wird im ersten Teil der Geschichte retrospektiv eine langjährige Krankenzeit zeitraffend geschildert, verkürzt sich im zweiten Teil die Wiedergabe des Erlebten auf einen Tag. Der Erzähler verwendet für diesen Tag das Wort „Festzeit". Und wieder findet sich in seiner Erzählung ein biblisches Motiv. Er, der vormals einsam sein Essen zu sich nahm, sitzt am Festtag mit seinen Zufallsbekanntschaften zum gemeinsamen Abendmahl an einem Tisch. In derselben Nacht begegnet der Erzähler auch seiner künftigen Frau, mit der er Kinder bekommt. Schwester und Frau sind in der antiken Mythologie eine Person, wie z.B. Aschera, die ihren Bruder und Gemahl Baal nach der Zerstückelung durch den Gott der Unterwelt wieder zum Leben erweckt.

In den auf die „Festzeit" folgenden Jahren meint der Ich-Erzähler in den angstvollen Blicken seiner Kinder das Unberechenbare seines vormaligen Wesens gespiegelt. Und so endet mit seinem Blick in den Spiegel der dritte Teil der Geschichte. Der Erzähler träumt diese Selbstbegegnung im Spiegel, entdeckt bei seinem Anblick nichts Furchterregendes, nur ein Menschengesicht (94). Jedoch beim Abwenden vom Spiegel schaut der Erzähler in die Schwärze des geträumten Raumes und bricht daraufhin wie zu Zeiten seines Besessenseins in unartikuliertes Gekrächze aus. Von seinem Kriegsgeschrei erwacht, ruft er in die Leere hinein: „Seid ihr alle da?" (94). Auf den aus dem Kasperletheater bekannten Ruf in die Zuschauermenge gibt es keine Antwort. Es ist der letzte Satz dieser Geschichte.

Am Ende bleiben Fragen offen: Sind die scheinbar vertriebenen Dämonen seiner multiplen Persönlichkeit wieder da? Oder handelt es sich nur um ein Erinnern an die Fragilität seines Ichs im Widerstreit mit dem unbewussten Es? Zuletzt noch eine Vermutung: Erzählt Handke in diesem Buch sich selbst als denjenigen, der sein schriftstellerisches Werk mit Publikumsbeschimpfungen beginnt und schließlich mit Protagonisten seiner Literatur am Abendmahlstisch zusammenfindet? Ist Handke der Welt-Erzähler analog zu seiner Figur in Wim Wenders Film „Der Himmel über Berlin"? Versteht sich der Autor als eben diesen Welterzähler, der im Rückgriff auf antike wie biblische Literatur beim Erzählvorgang sich selbst findet und erfindet?

Die Lektüre des Buches ist sehr zu empfehlen. Höhepunkt der Geschichte ist Handkes Schilderung der Begegnung seines Erzählers mit dem „Guten Zuschauer", eine Einladung zum neuen, unverstellten Lesen der „Heilung des Besessenen von Gerasa" und dem damit einhergehenden tradierten Jesusbild.

Berlin: Suhrkamp Verlag. 2021
93 Seiten
19,00 €
ISBN 978-3-518-225254-0

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