Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Peter Neuner: Der lange Schatten des I. Vatikanums

Das Zweite Vatikanische Konzil wurde vor wenigen Jahren festlich begangen und gefeiert. Über 50 Jahre nach dessen Abschluss wird noch immer von progressiv gesinnten Christen der „Geist des Konzils“ als belebender Impuls beschworen. Das Erste Vatikanische Konzil, das 1870 wegen des Ausbruchs des Deutsch-Französischen Krieges abgebrochen, nicht abgeschlossen wurde, wird seitens der Systematischen Theologie heute eher kritisch bis negativ beurteilt.

An dessen 150. Wiederkehr erinnert der emeritierte Münchner Dogmatiker Peter Neuner. Fundiert und präzise schildert er die Vorgeschichte wie die Abläufe der Kirchenversammlung. Bedacht ist Neuner insbesondere darauf, die Rezeptionsgeschichte pointiert zu kommentieren. Das Konzil habe die katholische Kirche in ein „idealisiertes Mittelalter“ überführt, damit in ein „geistiges und gesellschaftliches Abseits“. Ungeachtet der restaurativen Tendenzen verkennt Neuner nicht, dass die teilweise heute noch immer verklärte Französische Revolution in einen „irrationalen Blutrausch“ gemündet war. Eine kritische Reflexion der Signaturen der Zeit und ihrer Folgen seitens der Kirche schien also durchaus geboten zu sein. Auch der hervorsprossende theologische Liberalismus im 19. Jahrhundert wurde als Herausforderung wahrgenommen. Die Theologie indessen erstarrte in neuscholastischen Denkformen. Neuner schreibt: „Der Papstkult wurde zu einem Massenphänomen der katholischen Kirche.“ Die Diskussion um die Unfehlbarkeit des Bischofs von Rom führte auch zu binnenkirchlichen Konflikten. In kirchengeschichtlicher Perspektive wird daran erinnert, dass diese dem „immerwährenden Glauben der Kirche“ widerspreche. Schließlich sei Papst Honorius im 7. Jahrhundert der Häresie verfallen und vom Sechsten Ökumenischen Konzil verurteilt worden. Wie also könne, so etwa der Historiker Döllinger seinerzeit, behauptet werden, der Papst bewahre „immer irrtumslos den rechten Glauben“? Ebenso, so Neuner, sei durch das Vatikanum I ein neuer Zentralismus entstanden.

Die katholische Kirche werde seither zuerst und vor allem als Weltkirche verstanden. Die Diözesen seien nur „Untergliederungen der globalen Kirche“. Die Dogmatik wurde zur vorherrschenden Disziplin im Fächerkanon der Theologie. Seither werde eine Theologie, „die ihren Ausgangspunkt nicht beim Dogma nimmt, sondern bei den Problemstellungen und Herausforderungen des menschlichen Lebens ansetzt“, als „häretisch“ angesehen. Auf die Gegenwart übertragen, stünde somit jede Theologie, die Lebenswelt und Lebenswirklichkeit sensibel zu verstehen versucht, unter Modernismus- und Häresie-Verdacht. Der Verfasser zeichnet dann überblicksartig die Abweisung tatsächlicher oder vermeintlicher relativistischer Theologien in der Folgezeit bis heute nach.

Ein Fortwirken des Ersten Vatikanischen Konzils sieht Neuner zudem in den zeitgenössischen Debatten zum Relativismus. Die lehramtliche Kritik hieran sei dominiert von jenen Argumentationsstrukturen, die das Unfehlbarkeitsdogma bestimmt hätten. Der heute kritisierte Klerikalismus sei zudem eine Frucht des Konzils. Peter Neuner diagnostiziert Formen der Entwicklung innerhalb der Kirchen- und Konziliengeschichte. Er stellt fest: „Die Kirche war nicht immer so, wie sie sich heute darstellt, und sie wird nicht so bleiben, wie sie ist. Sie ist nicht dem Wandel enthoben, überzeitlich und allein von ewigen Wahrheiten bestimmt.“

Das Zweite Vatikanische Konzil identifiziere die katholische Kirche nicht mehr mit der Kirche Jesu Christi. Neuner bezieht sich auf den Kirchenvater Augustinus. Er separiert dessen Gedanken aus „Über die Taufe“ aus dem Kontext und aktualisiert diesen paraphrasierend: „Laut Augustinus sind viele drinnen, die draußen scheinen, und viele draußen, die drinnen scheinen.“ Das Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils, die Kirche sei das „Volk Gottes“, sieht Neuner als eine notwendige „Selbstrelativierung der Kirche“ an, mithin auch eine aus Abkehr von einer starren Bindung an die Institution und die Hinwendung zu einem erneuerten Bewusstsein von christlicher Zugehörigkeit wie konfessionsübergreifender Verbundenheit.

Wie das Konzil die Kirche noch heute blockiert
Freiburg: Herder Verlag. 2019
239 Seiten
28,00 €
ISBN 978-3-451-38440-0

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