Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Philipp Felsch: Wie Nietzsche aus der Kälte kam

Zwar sei das Bild der geldgierigen, von antisemitischen Obsessionen beherrschten Elisabeth Förster-Nietzsche, die ihren „geisteskranken Bruder“ vermarktet und verkauft hätte, „einer differenzierteren Einschätzung“ gewichen, schreibt Philipp Felsch. Aber der Autor zeigt in seiner Einleitung auch, wie es unter Elisabeths Einfluss dazu kommen konnte, dass seine Philosophie vom NS-Staat derart vereinnahmt wurde, dass der italienische „Duce“ 1943 eine Nietzsche-Gesamtausgabe mit der Widmung geschenkt bekam: „Adolf Hitler seinem lieben Benito Mussolini“.

Tatsächlich war es „die Schwester“, der es gelang, das Weimarer Nietzsche-Archiv völlig zu kontrollieren und zu einer „nationalen Pilgerstätte“ auszubauen. Mit der Publikation des „Willens zur Macht“ (1901) – nur ein Jahr nach Nietzsches Tod – präsentierte sie dem hochgespannten Publikum schließlich ein manipuliertes „Hauptwerk“, das völkischen Tendenzen Vorschub leistete und Träume vom „Übermenschen“ entfachte. Daher war es, wie der Berliner Kulturwissenschaftler auf fesselnde Weise zeigt, folgerichtig, dass Nietzsches Werk mit dem Untergang des „Dritten Reiches“ 1945, einer Damnatio memoriae, einer Tilgung aus dem Gedächtnis des westlichen Geisteslebens, anheimfiel.

Dies äußerte sich, wie der prägnant und anspielungsreich gewählte Titel (John le Carré: „Der Spion, der aus der Kälte kam“) zeigt, vor allem darin, dass mit Nietzsches Nachlass zwar keine Spionage-, sondern eine nicht minder fesselnde Editionsgeschichte verknüpft ist. Felsch gelingt es, diese temporeich, reflektiert und spannend im Ost-West-Kontext nachzuzeichnen: Es waren zwei linke italienische Literaturwissenschaftler, Giorgio Colli (1917-1979) und sein Lieblingsschüler Mazzino Montinari (1928-1986), denen es – ironischerweise als vertrauenswürdigen Antifaschisten, Mussolini-Gegnern und Bundesgenossen der DDR – gelang, Nietzsche aus der Isolation herauszuholen. Kurz gesagt: Sie erlösten den unzeitgemäßen Denker aus den eiskalten Katakomben des Archives und trugen zur Rettung und Rehabilitierung seines Denkens bei: durch ihr Lebenswerk der fünfzehnbändigen wortgetreuen „Kritischen Gesamtausgabe“ (de Gruyter).

„Während unter manchen westdeutschen Nietzscheanern noch immer das Gerücht kursiert, Nietzsches Nachlass sei nach dem Krieg auf einen sowjetischen LKW verladen worden“ und in Moskau gelandet, macht sich der akribische Philologe Montinari im April 1961 auf den Weg. „‚Diese Reise nach Weimar ist vielleicht das wichtigste Ereignis meines Lebens‘, schreibt er wenige Tage später an Colli. ‚Ich war auf eine ganz eigene, unaussprechliche Weise bewegt, als ich zum ersten Mal ein Manuskript von Nietzsche in den Händen hielt.‘“ Zuerst will der von der DDR hofierte, aber auch überwachte Forscher im Goethe- und Schiller-Archiv nur die Handschriften für eine italienische Neuausgabe einzusehen, aber bald wird ihm klar: Die Edition des deutschen „Urtexts“ ist so fehlerhaft, dass die Sache völlig neu in Angriff genommen werden muss.

In den folgenden knapp zwei Jahrzehnten berichtet Montinari regelmäßig aus seiner Textwerkstatt. Er schwankt zwischen „Lust und Qual“, schreibt dem Wissenschaftsorganisator Colli nach Italien von quasireligiösen Höhenflügen, aber auch von psychischen Abstürzen. In dem Bemühen, eine gesicherte philologische Basis für die weitere Forschung zu schaffen, verfällt er einer obsessiven Suche nach Genauigkeit, in der er sich als Geistesverwandter des berühmten Autors erlebt. „‚Für mich‘, so der in Weimar ruhelos Weiterarbeitende an seinen Lehrer, ‚erweist sich Nietzsche als große Prüfung. Ich weiß nicht, wie ich Dir erklären soll, dass diese Arbeit gerade deshalb immer mehr zu meiner Arbeit wird, weil sie so qualvoll ist.‘“

Mit ihrer Buchstabentreue, so Philipp Felsch, vollbrachten die nur noch als Colli/Montinari zitierten Herausgeber der Gesamtausgabe eine gewaltige Vor-Leistung für die Forschung. Die Kenner der europäischen Geistesgeschichte ließen sich dabei von der Idee leiten: Ohne die Wiederherstellung von Friedrich Nietzsches Textwelt sei überhaupt kein angemessenes Verständnis unseres Zeitalters möglich; sie machten die Stimme des Philosophen wieder hörbar. „Eine philologische Großtat.“

Geschichte einer Rettung
München: C.H. Beck Verlag. 2022
287 Seilen m. s-w. Abb.
26,00 €
ISBN 978-3-406-77701-1

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