Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rainer Schwindt: Der Gesang der Engel

Der Koblenzer Bibelwissenschaftler Rainer Schwindt wehrt sich in seinem neuesten Werk wortgewaltig und mit großer Gedankenschärfe gegen ein weitgehend unbemerktes Artensterben. Genannt seien nur einige vom Aussterben betroffene „Populationen“, die Cherubim, die Seraphim, Throne, Mächte und Gewalten. Das Buch ist aus einem liturgischen Impuls heraus geschrieben worden. Wer es aufschlägt und liest, dem eröffnet sich ein wahrer Kosmos im ursprünglichen Sinn, eine Raum- und Zeitentiefe, wie sie selten in einem Buch dargeboten wird und erfüllt von irdischen und himmlischen Klängen ist. Liturgie hat in der menschlichen Kulturgeschichte als Gotteslob begonnen; die Menschen sind bloß Mitfeiernde, nicht die Adressaten der Feier, und Liturgie will durch die Zeiten und Kulturen hindurch auch so verstanden werden.

Der Bibelwissenschaftler beginnt seine Überlegungen in altorientalischen Kontexten und zeigt auf, wie das junge Israel sich von und aus den Zeiten und Räumen, in denen es groß geworden ist, in seinem Gotteslob inspirieren lässt. Die polytheistische Umwelt wird nicht gänzlich abgewiesen, sondern in einer Art niederer Transzendenz (J. E. Hafner) in einer reichhaltigen und tiefgegliederten Engelwelt, an deren Spitze der Gott Israels thront, aufgehoben. Die Menschenwelt wird darin eingegliedert, und zusammen mit diesen Wesen niederer Transzendenz wird Liturgie gefeiert.

An vielen Stellen des Neuen Testamentes – angefangen von der Geburtsgeschichte bei Lukas bis in die Johannes-Apokalypse hinein – ist die alttestamentliche Grundfolie und eine frühjüdische Rezeption noch zu erkennen. Frühchristliche und mittelalterliche Denker haben noch griechisches Denken integriert. Schwindt gelingt es, zu retten, was C. S. Lewis in anderer Weise schon in den 1940er Jahren in dem Vortrag „Das leere Universum“ gegen seinen Oxforder Kollegen Gilbert Ryle als verloren beklagt, aber retten wollte: „Zu Beginn erscheint das Universum vollgestopft mit Willen, Intelligenz, Leben. […] Jeder Baum ist eine Nymphe und jeder Planet ein Gott.“ Jetzt hätten wir die Welt [das Objekt] entleert – das geht wohl gegen den kontinentalen Rationalismus – und das „Subjekt […] vollgestopft, aufgebläht, auf Kosten des Objekts“. Lewis schließt seine Überlegungen mit der Grundaussage zu seinem Werk „Die Abschaffung des Menschen“: „Als wir Dryaden und Götter hinauswarfen (die es natürlich so, wie man sie verstand, ‚nichts bringen würden’), warfen wir offensichtlich das ganze Universum mit hinaus, uns selbst mit eingeschlossen.“

Im vorliegenden Buch werden durch die Zeiten hindurch bewährte Formen und Denkkonzepte vorgelegt, miteinander abgewogen, liturgisch, literarisch, theologisch, und philosophisch durchdrungen, um eine reichhaltigere Wirklichkeit bis zu Gott hin begrifflich, künstlerisch, literarisch und musikalisch zum Ausdruck zu bringen. Philosophisch markiert Schwindt einen Wandel von einer aristotelisch-thomanischen Substanzontologie hin zu einer modernen Ereignisontologie.

Erstaunlich, wie alles ineinandergreift, als hätten sich Menschen über alle Räume, Zeiten und Kulturen hinweg miteinander abgesprochen. Es geschieht wahrhaftig eine „Vermessung der Welt“ im größten möglichen Maßstab, in der alles Vielfältige in einen Kosmos – in Zeiten und Räumen – gegliedert wird wo Sinnfälliges und Nichtsinnfälliges einander durchdringen und bis zum höchsten Nichtsinnfälligen reichen. Es ist beeindruckend, wie möglicher Kritik begegnet wird, die da lauten könnte: „Metaphysisch fühlende Menschen [sollten] ihre theoretischen Neigungen unterdrücken“ (Walter Schulz). Oder: Ist der „Bart der Metaphysik“ (Ockham) immer noch nicht abgeschnitten? Es sei doch „alles nur Oberfläche. Die Welt hat keine Tiefe" (Otto Neurath). Und die neueste Wortmeldung stammt von Richard Dawkins und sieht in Gott eine Wahnidee.

Schwindt begegnet solcher Kritik vielschichtig, zunächst mit einer historischen Herleitung und Fundierung. Das sich so Herausschälende unterwirft er mit einem systematischen Anspruch dem philosophischen Diskurs. An dieser Stelle seien nur Heinrich Rombach und Alfred North Whitehead genannt. Theologisch kommt, wie bei Thomas, eine theologia duplex zum Tragen, ohne dass Schwindt Thomas in dieser Weise explizit verwendet. Zunächst erfolgt eine metaphysisch-philosophisch zu nennende Reflexion in formalen Kategorien. Was Thomas als sacra doctrina bezeichnet, ist nie nächste Stufe der Reflexion, die die eigentliche Substanz des Thematisierten in den Blick nimmt. Ihr Thema ist im Kern eine Überwältigung der Sinne, letztlich die christlich begriffene Offenbarung selbst. Die großen protestantischen Theologen Erik Peterson und Karl Barth, aber auch Michael Welker werden in ihren Beiträgen zur Angelologie gewürdigt, ebenso der katholische Religionswissenschaftler Johann E. Hafner und selbst Niklas Luhmann, um das, was sich in der Offenbarung zeigt, in systemtheoretischer Abwägung zu verstehen. Die große Tiefenschärfe auf allen Ebenen des Thematisierten – seien sie kulturhistorisch, exegetisch, kirchenhistorisch, liturgiegeschichtlich in beschriebener Theologiehermeneutik abgefasst oder einer philosophischen Analytik unterworfen – zeigen, dass der Leser es mit keinem „Geisterseher“ zu tun hat. Für eine Theologie, die sich allerdings in den spanischen Stiefeln kantischer Logik bewegt, sind die ganzen Ausführungen redundant und bloß Philosophie- und Theologiegeschichte.

Indem Schwindt die Dichter Dante und Rainer Maria Rilke einbezieht, legt er ästhetisch in Wort und Schrift in der unsichtbaren Schöpfung ein Faszinosum frei, das in der sichtbaren Schöpfung sein Gegenüber in einem Korallenriff haben könnte. Warum sollte die unsichtbare Schöpfung der sichtbaren nicht das Wasser reichen können? Das ästhetisch ansprechende Werk mit vielen, meist farbigen Illustrationen erschließt eine ursprüngliche Freude an der Liturgie und macht auf ein seit der Aufklärung geräuschloses „Artensterben“ in der unsichtbaren Schöpfung mit großer Tiefenschärfe aufmerksam.

Theologie und Kulturgeschichte des himmlischen Gottesdienstes
Freiburg: Herder Verlag. 2018
400 Seiten m. Abb.
42,00 €
ISBN: 978-3-451-38312-

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