Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rudolf Englert: Geht Religion auch ohne Theologie?

Die Theologie ist die erste Bezugswissenschaft des Religionsunterrichts. Dieser Satz galt lange Zeit als Binsenwahrheit. Nicht nur die Themen, Lehrbücher und Materialien sollen dem gegenwärtigen Stand der Theologie entsprechen. Auch die religionspädagogischen Theorien fußen auf Entwürfen der systematischen Theologie. Ohne die Denkansätze von Tillich, Rahner und Schillebeeckx sind etwa die religionspädagogischen Debatten um die Korrelation nicht zu verstehen. Religionsunterricht ohne Theologie scheint unvorstellbar. Denn der christliche Glaube ist kein Sammelsurium unzusammenhängender Behauptungen, Geschichten oder Regeln, sondern bildet ein kohärentes und konsistentes Ganzes, das dem, was sonst noch gewusst und in anderen Fächern gelehrt wird, zumindest nicht widerspricht und das für das gegenwärtige persönliche und gesellschaftliche Leben relevant ist. Doch gilt diese Binsenwahrheit heute noch?

Rudolf Englert hat hier seine Zweifel, die die Ergebnisse seiner langjährigen Unterrichtsforschung und die Entwicklung der Religionspädagogik in den vergangenen Jahrzehnten nähren. Schon ein Blick auf den Buchmarkt und in die Regale zu „Religion/Theologie“ der Buchhandlungen verrät, dass theologische Literatur nur noch von einer kleinen Käufergruppe nachgefragt wird. Selbst für viele Christen sind die Ergebnisse theologischer Forschung sowie die Erklärungen lehramtlicher Theologie wenig bedeutsam. Die Theologie hat bis in die inneren Kreise der engagierten Kirchenmitglieder ein erkennbares Rezeptionsproblem. Das gilt erst recht für die außerkirchliche Öffentlichkeit. Ob etwas theologisch begründet ist, sagt für viele noch nichts darüber aus, ob es glaubwürdig ist. Vorherrschend ist heute eine „hybride Theologie“, wie Englert sie nennt, die nur gelten lässt, was der eigenen Erfahrung und den eigenen Plausibilitätsmustern entspricht. Glaubensinhalte treten hier gegenüber den emotionalen und ästhetischen Qualitäten von Religion in den Hintergrund.

Die Individualisierung religiöser Meinungen und Einstellungen hat die Relevanz der Theologie für den Religionsunterricht nicht unberührt gelassen. Denn die Autorität der Theologie beruht auf der grundsätzlichen Akzeptanz einer religiösen Tradition und ihrer Sozialgestalt (Kirche), innerhalb derer man seine eigene religiöse Position sucht und im Idealfall findet. Diese konfessionelle Bindung ist heute bei der Mehrheit der Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht nicht mehr gegeben. Auch in der Religionspädagogik ist die konfessionelle Theologie nicht mehr der selbstverständliche normative Bezugsrahmen ihrer Theoriebildung. Es ist jedenfalls auffällig, dass neuere Entwürfe systematischer Theologie kaum Einfluss auf die religionspädagogische Theoriebildung haben. Zudem ist durchaus zweifelhaft, ob die gegenwärtige systematische Theologie für die didaktische Erschließung christlicher Glaubensinhalte wirklich hilfreich ist.

Doch welche Folgen hat der Relevanz- und Autoritätsverlust der Theologie für den Religionsunterricht? Dieser Frage geht Englert in sechs Vorlesungen nach, die er 2019 als Papst Benedikt XVI.-Gastprofessor an der Universität Regensburg gehalten hat. Gibt Religion noch zu denken? Wovon redet die Theologie? Wie können Antworten auf religiöse Fragen gefunden und begründet werden? Kann man hier von „wahr“ und „falsch“ sprechen? Welche Relevanz haben religiöse Traditionen für die heutige Suche nach Orientierung? Kann man Religion lernen? In jedem der sechs Kapitel sucht Englert das Gespräch mit systematischen Theologen und religionspädagogischen Kolleginnen und Kollegen, um zu erkunden, worin die Bedeutung theologischen Denkens im und für den Religionsunterricht liegen könnte. Denn wenn die Theologie ihre fraglose Autorität verloren hat, sind ihre Argumente und Einsichten doch nicht einfach obsolet geworden. Man kann die Individualisierung von Religion als Emanzipation aus einengenden sozialen und intellektuellen Gehäusen deuten. Doch woraus soll der Einzelne Hoffnung schöpfen, wie moralische und intellektuelle Orientierung gewinnen und wofür soll man sich engagieren, wenn jede Wahrheit nicht mehr als eine persönliche Idiosynkrasie ist? „Ohne wenigstens vorläufige Wahrheiten, die wir mindestens mit einer gewissen Zahl Anderer teilen können, wird uns die Welt unbewohnbar“, schreibt Englert und fährt fort: „Ohne diese Sehnsucht, ohne den Wunsch, diese Welt nicht nur in ihren Einzelheiten, sondern auch als Ganzes, als Sinnzusammenhang, besser zu verstehen, bleibt alles schal und bloßes Getriebe. Wo im Religionsunterricht die Wahrheitsfrage weiterhin gestellt wird, leistet auch er einen Beitrag dazu, dass uns eine solche Welt der Maschinisten hoffentlich erspart bleibt.“

Freiburg: Herder Verlag. 2020
184 Seiten m. s-w Abb.
35,00 €
ISBN 978-3-451-38720-3

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