Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung

Rüdiger Lux: Jiftach und seine Tochter

Ist profane Literatur von einem bestimmten Sujet geprägt, nehmen wir etwa eine beliebige Tragödie eines der drei großen griechischen Tragiker Aischylos, Sophokles oder Euripides, fällt es leicht bzw. liegt es nahe, davon zu reden, dass damit große, gewichtige, ernste Fragen des menschlichen Lebens aufgegriffen werden und auf literarischem Weg mit ihnen gerungen oder nach Antworten gesucht wird. Ist ja auch klar: Schon in der griechischen Antike spielten Dilemmata und die Frage nach dem Tragischen eine große Rolle. Heute sind es Fernsehproduktionen auf der Grundlage des Dramas „Terror“ von Ferdinand von Schirach, wo derartige Probleme thematisiert werden. Handelt es sich aber – beim gleichen oder ähnlichen Sujet – um biblische Literatur, vornehmlich um alttestamentliche, dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass reflexartig die Reaktion erfolgt, dass die Texte des Alten Testamentes sowieso durch die Bank unverständlich, unmenschlich, ja grausam seien und ein unmögliches Gottesbild transportiert werde etc. etc. Man kennt das ja.

Ja, es gibt biblische Texte, die für sich gesehen und ohne notwendige Kontextualisierung (Im Übrigen: Eine Kontextualisierung ist sowohl für die griechischen Klassiker notwendig als auch – selbst wenn erst in einigen Jahren, aber dann doch – für die Stücke Ferdinands von Schirach hilfreich.) beim ersten Lesen zu großen Fragezeichen, ja zu verständlicher Ablehnung führen. Dazu gehören u.a. die Texte, die sich um die Gestalt des Richters Jiftach (Ri 10,6-12,7) ranken, insbesondere die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter (Ri 11,29-40). Bei dieser Erzählung handelt es sich um ein geradezu klassisch-tragisches Gelübde: Jiftach gelobt, sollte ihm durch JHWHs Beistand ein militärischer Sieg gelingen, genau das Lebewesen zu opfern, das ihm als Erstes bei der Rückkehr nach Hause entgegenkäme. Es kommt, wie es kommen „muss“: Jiftach erringt den Sieg, kehrt nach Hause zurück – und es kommt ihm seine einzige und noch unverheiratete Tochter entgegen. Diese willigt in das Gelübde ihres Vaters ein und nimmt von ihren Freundinnen Abschied. Dann – so heißt es lapidar im Text – „erfüllte [Jiftach] an ihr sein Gelübde“ (Ri 11,39). Emotionslos erzählt der Text, was an Tragik und Emotionalität kaum auszudrücken ist.

Es ist „[w]eniger das, was Jiftach und seine Tochter einmal waren, als vielmehr das, was man sich immer wieder und immer neu von ihnen zu erzählen wusste, hat Geschichte gemacht. Ihr Heldentum und ihr Schmerz hat sich in die abendländische Gedächtniskultur eingeschrieben. Die Erinnerungsspur, die von ihnen ausging, lässt sich bis in die Moderne hinein verfolgen.“ (56) So bringt Rüdiger Lux auf den Punkt, was die klassischen griechischen Tragödien, die Erzählung um Jiftach und seine Tochter und auch zeitgenössische Werke wie die Ferdinands von Schirach teilen: Die Frage nach dem Tragischen, Schicksalhaften und seine Verflechtung mit dem Bereich des den Menschen Übersteigenden, dem Göttlichen. Er formuliert es so: „Das Tragische ist danach ein Drittes, ein Abgrund, ein Riss, der sich zwischen mir und meiner Lebenswelt, zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen auftut, zwischen Ordnung und Chaos, Regel und Regellosigkeit, Sinn und Abersinn.“ (27)

Diese „Dritte“, eingebunden in einen biblischen Erzählzusammenhang, nimmt der Verfasser mit dem vorgelegten Band in den Blick. Auf die Einführung (13-36), in der Lux die Erzählung um Jiftach und seine Tochter motivisch verortet und einen Ausflug in die antike Tragödientheorie und in die Philosophie unternimmt, folgt der mit „Darstellung“ übertitelte Hauptteil (37-189). Darin gibt der Autor hilfreiche und komprimierte Informationen zum Buch der Richter und kontextualisiert den Jiftach-Zyklus (Ri 10,6-12,7) in gut lesbarer und sehr verständlicher Art und Weise. Die Ausführungen des Hauptteils sind ergänzt durch insgesamt fünf kurze Exkurse: zu Kemosch (einer ammonitischen Gottheit), zu Gelübden innerhalb der Bibel Israels, zur Frage nach Menschenopfern im alten Israel, zum Motiv der Rache JHWHs und zur Frage eines Übergangsritus vom Mädchenalter zur Jugend. Den dritten Abschnitt seines Buches widmet Lux der Wirkungsgeschichte (190-229), wobei er innerbiblische, jüdische und christliche Stimmen zusammenträgt. Gerade dieser Abschnitt nimmt erfreulicherweise einen großen Raum ein! Ein reichhaltiges Literatur- und Abbildungsverzeichnis runden das Buch ab.

Berührungspunkte mit der Erzählung um Jiftach und seine Tochter sind eher selten: In der Liturgie findet sich die entsprechende Lesung ein einziges Mal (nämlich in den Wochentagslesungen) und in den Lehrplänen der Schulen sucht man wohl vergeblich nach ihr. Gerade aber deswegen böte es sich an, im Religionsunterricht die Erzählung von Jiftach und seiner Tochter zu vernetzen mit anderen Fächern bzw. Texten oder Filmen und dem Tragischen „in seinen jeweiligen individuellen, literarischen und geschichtlichen Ausprägungen nachzuspüren“ (22) und zu entdecken, dass auch den biblischen Texten tragische Dilemma-Situationen nicht fremd waren und sind und Menschen schon vor über 2.000 Jahren mit manchen bis heute ungelösten Fragen und Erfahrungen gerungen haben.

Eine biblische Tragödie
Leipzig: Evangelisches Verlagshaus 2021
240 Seiten m. s-w Abb.
20,00 €
ISBN 978-3-374-06755-8

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